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»30 Jahre friedliche Revolution«: Eine Erzählung von Yadé Kara zum Mauerfall

2003 erschien einer der wohl ungewöhnlichsten Romane über den Mauerfall: Selam Berlin von Yadé Kara. Der Roman handelt von dem neunzehnjährigen Hasan Kazan, der an jenem Tag begeistert beschließt, Istanbul zu verlassen und nach Berlin zurückzukehren.

Zum Anlass des heutigen dreißigjährigen Jubiläums des Mauerfalls, und 16 Jahre nach dem Erscheinen ihres davon inspirierten Romans, hat Yadé Kara nun eine kurze Erzählung geschrieben, die erneut den Mauerfall thematisiert. Sie beschreibt darin eine Szene am Grenzkontrollpunkt Dreilinden.

Yadé Kara in den Kulissen der ARD Tagesschau am 9. November 1989, aufgenommen im Rahmen der Aktion Throwback ’89) Foto: © Yadé Kara

Aus Anlass von ›30 Jahre friedliche Revolution – Mauerfall​​​​​​​‹.


Splitter, Bilder, kurze Szene aus alten Westberliner Tagen. Wahre Begebenheit.

Szene: Westberlin. Ende 70er-Jahre.

Ort: Dreilinden. Grenzübergang in die DDR. Angst und Reflexe gehörten dazu.

Lange Autoschlange am Grenzübergang. Transitverkehr.

Ein Mädchen (9 Jahre) sitzt hinten im Auto. Am Lenkrad die Mutter.

Das Auto bewegt sich langsam in der Autokolonne. Grenzkontrolle DDR.

Ein großer brauner Teddybär mit roter Schleife auf dem Hintersitz.

Das Mädchen malt auf ein Blatt Papier. Die Mutter tippt hektisch mit den Fingern auf das Lenkrad, als wollte sie damit die Autoschlange vorantreiben. Warten.

Nach einer Weile sagt das Mädchen: »Mama, ich gebe dem Mann die Ausweise.«

»Nein!«

»Mamamaaaaaaa«, schreit das Mädchen aus Protest.

Die Mutter blickt nervös umher.

»Aaaaaaaahhhhh!« Das Mädchen verwandelt sich in eine Sirene am Kontrollpunkt. 

Bloß nicht auffallen.

»Schschschsch…«, versucht die Mutter sie zu beruhigen. Die Sirene steigert ihre Dezibel…

»Ist gut, ist gut. Ruuheee.«

Das Mädchen verstummt prompt. Mit Tränen in den Augen schaut sie ihren Teddy an. Nickt kurz.

»Sei freundlich zu dem Kontrolleur. Keine Faxen. Hast du verstanden?«, fragt die Mutter fordernd und drückt ihr die Ausweise in die Hand.

Das Mädchen nickt brav. Stille. Ruhe. Sie faltet das bemalte Blatt Papier und steckt es zwischen die Ausweise.

Nach einer Weile kommen sie an der Kontrollscheibe dran. Hinter der Scheibe ein dicker Mann in grauer Uniform. Keine Reaktion in seinem Gesicht.

Das Mädchen dreht das Seitenfenster runter, streckt ihren ganzen Körper und Arm und reicht dem Kontrolleur die Ausweise. Er nimmt routiniert die Papiere, klappt sie auf, prüft das Ausweisfoto, blickt die Mutter an, blickt das Mädchen an. Dann klappt er das Blatt Papier auf.

Drauf steht:  

Ausweis
Name: Bär
Vorname: Teddy
Geburtsdatum:  1.2.1975
Augenfarbe: braun
Größe: 70 cm
Staatsangehörigkeit: Deutsch

Der Grenzkontrolleur schaut die Mutter streng an. Sie wird rot im Gesicht.

»Fahrnsiemalrechtsran«, fordert er in knappem Ton und behält die Ausweispapiere.

Stille im Auto. Bleierne Stille.

»Das hast du nun davon!«, murmelt die Mutter wütend vor sich hin. Dann fährt sie rechts raus. Ein anderer Grenzkontrolleur kommt ans Auto.

»Gänsevielleichtkofferraumövnen.«

Es dauert Stunden, bis jeder Winkel im Auto abgesucht ist. Das Mädchen nimmt sich vor: In Zukunft werde ich nur noch fliegen.

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Viele, viele Jahre später wird das Mädchen zu den 100 erfolgreichsten Jungunternehmerinnen gewählt. Sie ist Chefin eines Reiseunternehmens und verbringt viel Zeit in Flugzeugen, Flughäfen und Hotels. Aber da gibt es denn Grenzübergang Dreilinden nicht mehr.
 

 

Wir danken Yadé Kara für die Bereitstellung des Textes »Aus Anlass von ›30 Jahre friedliche Revolution – Mauerfall‹«. © Yadé Kara, Dreilinden, Berlin 2019

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Yadé Kara, geboren in Cayirli (Türkei), studierte Anglistik und Germanistik. Sie arbeitete als Schauspielerin, Lehrerin, Managerin und Journalistin in Berlin, London, Istanbul und Hongkong. Sie lebt in Berlin. Für ihren 2003 erschienenen Roman Selam Berlin erhielt sie 2004 den Deutschen Bücherpreis für das beste Debüt und den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis.

In diesem Video sind einige Originalaufnahmen Yadé Karas vom November '89 zu sehen; sie nahm das Material hinter dem Reichstag bei der Berliner Mauer auf.

Am Sonntag, dem 10. November liest die Autorin aus Selam Berlin bei der East Side Gallery. Mehr Infos dazu gibt es hier.