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»Die Geschichtsschreibung befasst sich mit den Fakten, aber erst die Literatur kann die Frage nach der Erfahrung stellen.«
Ein Interview mit Stefan Hertmans

In seinem neuen Roman Der Aufgang begibt Stefan Hertmans sich auf Spurensuche nach den früheren Bewohner:innen eines alten Hauses in Gent, in dem er selbst lange gelebt hat, und entdeckt die fesselnde Geschichte des flämischen Nazi-Kollaborators Willem Verhulst und seiner Familie.

Der Roman erscheint am 27.4.2022. Im Diogenes Interview spricht er über die Beweggründe, sich dieses Stoffes anzunehmen und darüber, warum die Vergangenheit auch heute noch so wichtig ist.

Foto: © Saskia Vanderstichele

Wie und warum hat dieser Stoff Ihr Interesse geweckt?

Stefan Hertmans: Das kam nach und nach. Ich hatte absolut keine Lust, einen Roman über den Zweiten Weltkrieg zu schreiben und schon gar nicht über einen flämischen Nazi. Aber als ich in dem Buch meines ehemaligen Professors Adriaan Verhulst las, dass ich im selben Haus wohnte, in dem ein wichtiger SS-Mann gewohnt hatte – sein Vater Willem Verhulst –, wurde ich neugierig. Ich machte mich daran, meine eigenen Erinnerungen an das Haus mit allen Fakten zu kombinieren, die ich durch Nachforschungen herausfinden konnte.

Welchen Reiz hat es für Sie, Fiktion und Fakten auf diese Weise miteinander zu verweben? Und worin glauben Sie, liegt die literarische Kraft in solch einem Vorgehen?

Stefan Hertmans: Die Geschichtsschreibung befasst sich mit den Fakten, aber erst die Literatur kann die Frage nach der Erfahrung stellen. Was als objektive Geschichte erscheint, ist oft weit entfernt von dem, was die Betroffenen wirklich erlebt haben müssen. Ich konnte die Fakten herausfinden, aber ich musste mir die Details dessen, was in dem Haus tatsächlich geschehen war, selbst vorstellen. So interagieren Fakten und Fiktion – oder, genauer gesagt, ist die Fiktion in solchen Romanen eine Funktion der Fakten.

Das politische Drama, das der Roman thematisiert, ist gleichzeitig auch das Drama einer Ehe. Was können Sie uns über die Frauenfiguren im Roman sagen, insbesondere über Wilhelms zweite Frau Harmina, genannt Mientje?

Stefan Hertmans: Es ist klar, dass Mientje die eigentliche Hauptfigur des Romans ist. In ihrer Gestalt liegt die moralische Entrüstung über Willems dunkle Praktiken. Diese Konfrontation ist auch kultursoziologisch interessant: der flämische Arrangeur und Charmeur Willem gegen die moralisch geradlinige niederländische Protestantin. Wie in den beiden vorangegangenen Romanen gibt es eine Art ›Antigone‹-Figur: eine Frau, die sich dem patriarchalischen Gesetz des Vaters widersetzt und dafür einen hohen Preis zahlen muss. Mientje ist für mich die Figur, die es ermöglicht, eine emotionale Bindung zur Geschichte zu entwickeln – das war bei Willem nicht möglich.

Wie haben Sie für den Roman recherchiert? Und wie wichtig waren Zeitzeugen für die Entwicklung der Geschichte?

Stefan Hertmans: Ohne das mutige Zeugnis von Verhulsts beiden Töchtern Letta und Suzy wäre der Roman nicht möglich gewesen. Sie öffneten mir die Augen für das, was ich später als ›intimen Faschismus‹ bezeichne: Welche Auswirkungen hat ein solcher Vater auf eine Familie, die seine Nazisympathien nicht teilt (weil die Mutter standhaft bleibt). Wo findet der moralische Wandel statt, der aus einem sogenannten Idealisten einen Kriminellen macht? Zahlreiche Anekdoten, die ich während meiner Gespräche mit Letta aufgezeichnet habe, ergänzen das Buch ihres Bruders Adriaan. Ihre Schilderungen machten mir auch das Leiden von Mientje bewusst. Von Letta erhielt ich zudem die schriftliche Erlaubnis, als Erster die Akten des Kriegsgerichtsverfahrens gegen Willem einzusehen.

Das Buch enthält auch Fotografien. War es schwierig, Material zu finden?

Stefan Hertmans: Die Verwendung von Fotografien in diesem – historisierenden, eher als historischen – Roman ist meine Hommage an den großen deutschen Schriftsteller W.G. Sebald, der als Erster Bilder in romanartige Erzählungen eingefügt hat. Diese Bilder haben eine doppelte Funktion: Einerseits scheinen sie bloß Illustrationen zu sein, andererseits vermitteln uns die alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen durch ihren oft unvollkommenen Charakter das Gefühl, dass wir die historische Distanz nie ganz werden überbrücken können. Ich konnte mich ausgiebig auf das Archiv der Familie Verhulst stützen, aber viele der andere Fotos stammen auch aus anderen Quellen. Ab einem gewissen Punkt wird es zu einer an Walter Benjamin erinnernden Sammelwut ... Sie bringt uns die Vergangenheit näher, während diese gleichzeitig vor uns flieht.

Welche Bedeutung hat der Titel Der Aufgang für Sie? Oder gibt es mehrere Bedeutungen?

Stefan Hertmans: Der Titel ist trotz seiner scheinbaren Einfachheit in der Tat komplex. Einerseits geht es um die Karriere, den Aufstieg eines flämischen Nazis, aber das Wort ist auch ein Echo auf den bekannten Film Der Untergang. Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus sind darin enthalten. Zum anderen gibt es die wörtliche Bedeutung: Ein Notar und ein Kaufinteressent besichtigen ein Haus und gehen vom Keller bis zum Dachboden. Der erfahrene Leser oder die erfahrene Leserin wird in diesen Figuren leicht die Charaktere von Dante und Vergil aus Dantes Divina Commedia erkennen. Ihr ›Aufstieg‹ verleiht der Geschichte eine transzendente Tiefe: Denn im obersten Stockwerk (wohin der Notar nicht gelangen kann, ebenso wenig wie Virgil ins Paradies) findet der Erzähler keinen Gott, keine Antwort auf die Frage nach dem Bösen in der Welt – nur schwarzen Staub und eine Taube als Karikatur des Heiligen Geistes.

Nach Die Fremde und Krieg und Terpentin nehmen Sie sich auch in Der Aufgang der Themen Krieg, Antisemitismus, gesellschaftliche Spaltungen und Flucht an. Inwiefern bilden diese drei Romane nun eine Einheit?

Stefan Hertmans: Erst nach der Fertigstellung von Der Aufgang wurde mir klar, wie sehr diese drei Romane miteinander verwandt sind. Dreimal geht es um Menschen, die versuchen, sich in einer Zeit der Gewalt, des Umbruchs und der Angst zu behaupten. Dreimal ist die Rolle des Glaubens wichtig – in Krieg und Terpentin der Katholizismus meines Großvaters, der ihm Würde und Mut verleiht; in Die Fremde die Rolle des mittelalterlichen christlichen und jüdischen Glaubens, der Bekehrung und des Zweifels; und in Der Aufgang die Rolle von Mientjes protestantischer Moral. In jedem dieser Romane sind die Frauen Antigone-ähnliche Figuren. Und in jedem dieser Romane geht es um eine historische Vergangenheit, die unsere Gegenwart widerspiegelt. In Der Aufgang ist dies das psychologische Porträt von Willem: ein narzisstischer junger Mann, der vom Geschwätz der totalitären Ideen verführt wird. Der Aufgang zeigt, wie junge Menschen, auch in unseren Zeiten, von Populismus und Neonazismus dazu verführt werden können, moralische Grenzen zu überschreiten und Grausamkeit und Skrupellosigkeit zur Normalität werden zu lassen.

In der Anspannung der Vorkriegsjahre fällt im Roman auch das heute allgegenwärtige Stichwort ›Lügenpresse‹. Welche Parallelen ziehen Sie zur Gegenwart und welche Lehren ergeben sich daraus?

Stefan Hertmans: Ich war überrascht, dass das Wort Lügenpresse bereits in der Zwischenkriegszeit in Gebrauch war. Die Details zeigen, dass die Strategien der antidemokratischen Kräfte immer dieselben sind: die Presse verdächtigen, die Realität leugnen, eine intersubjektive Blase aus Parolen, Verzerrungen und Lügen aufbauen und die Presse, die die Fakten liefert, als Lügner bezeichnen. Der Trumpismus ist offenbar ein Phänomen aller unsicheren Zeiten.

Deutsche Leser:innen wissen oft wenig über die Geschichte der Kollaboration in Belgien und ihre zwiespältige Herkunft aus dem idealistischen, antifranzösischen und antielitären Separatismus der Flamen im Ersten Weltkrieg. War es Ihnen deshalb ein Anliegen, von diesem (verborgenen) Kapitel der europäischen Geschichte zu berichten?

Stefan Hertmans: Ich bin in der Tat davon überzeugt, dass es wichtig ist, Romane zu veröffentlichen, um die spezifische Geschichte Belgiens für den europäischen Leser zu beleuchten. Dieses Land ist sehr komplex. Durch einen internationalen Vertrag (hauptsächlich um Deutschland und Frankreich auseinander zu halten) lernten ein lateinisches und ein germanisches Volk zusammenzuleben, beeinflussten einander allmählich gegenseitig und wurden schließlich ›Belgier‹. Gleichzeitig wurde das Land aber auch gegründet als eindeutig französischsprachige Nation. Da fing der Kampf um die sprachliche Emanzipation der Flamen an, die erst nach dem Ersten Weltkrieg das Recht erhielten, Hochschulen und Universitäten in ihrer eigenen Sprache zu haben. Im Nachhinein ist es unglaublich, dass Belgien als ein einsprachiger französischsprachiger Staat gegründet werden konnte, während mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung niederländischsprachig waren. Als viele Aktivist:innen nach dem Ersten Weltkrieg für ihre Kollaboration mit dem ›Germanischen Bruder‹ schwer bestraft wurden, radikalisierte sich ein Teil der flämischen Bewegung und ging eine Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus ein. Später wurde weithin behauptet, dass es sich um fehlgeleitete Idealisten gehandelt habe.

Mein Buch zeigt, dass dies eine Lüge ist: Leute wie Willem waren Verbrecher, die ihre eigenen Mitbürger – jüdische Bürger:innen, Freimaurer und Menschen aus dem Widerstand – in die Vernichtungslager schickten. Anstatt ihr Volk zu verteidigen, wie sie behaupteten, haben sie es verraten. Doch diese Rechtfertigung für die Kollaboration der ›Flaminganten‹ blieb wie ein Schleier über der historischen Aufarbeitung jener Zeit. Dies hat die flämische Bewegung bis heute kompromittiert, und in bestimmten rechtsextremen Kreisen (z.B. Vlaams Belang) wird das Märchen von den unschuldigen Kollaborateuren immer noch aufrechterhalten.

Ich hoffe, dass dieses Buch einige der komplexen Beziehungen in Belgien sozusagen aus der Intimität einer Familie heraus veranschaulichen kann.

(Das Gespräch führte Stephanie Uhlig, Februar 2022 / (c) by Diogenes Verlag AG Zürich)

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Der Aufgang

Stefan Hertmans, geboren 1951 in Gent, Belgien, Dichter, Dramatiker, Romancier, gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart. Krieg und Terpentin war 2016 für den International Man Booker Prize und den Premio Strega International nominiert. Zudem wurde der Roman von ›The New York Times‹, ›The Times‹ und ›The Economist‹ zu einem der besten Bücher des Jahres gewählt. Die Fremde war für den National Jewish Book Award nominiert und stand auf der Shortlist des Fémina étranger 2018. Hertmans lebt in Brüssel und im südfranzösischen Monieux.

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