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»Es geht nicht um Geschichte, sondern um Geschichten.« Charles Lewinsky im Interview

Der Sebi ist nicht gemacht für die Feldarbeit oder das Soldatenleben. Viel lieber hört und erfindet er Geschichten. Im Jahr 1313 hat so einer es  nicht leicht in einem Dorf in der Talschaft Schwyz, wo die Hacke des Totengräbers täglich zu hören ist und Engel kaum von Teufeln zu unterscheiden sind. Doch vom Halbbart, einem Fremden von weit her, erfährt der Junge, was die Menschen im Guten wie im Bösen auszeichnet – und wie man auch in rauhen Zeiten das Beste aus sich macht.

Der Halbbart steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020: ein Roman voller Schalk und Menschlichkeit, der zeigt, wie aus Geschichten Geschichte wird.

Wir haben mit Charles Lewinsky über seinen neuen Roman gesprochen.

1. Der Roman heißt Der Halbbart. Was macht den Halbbart zum Protagonisten? Steht nicht eigentlich der junge Sebi im Mittelpunkt des Geschehens?

Charles Lewinsky: Das ist eine Frage, die ich mir beim Schreiben auchgestellt habe. Wer ist wichtiger, der Beschreiber oder der Beschriebene? Mit jedem Kapitel ist mir klarer geworden: Ohne seine Begegnung mit dem Halbbart wäre der junge Sebi kein ungewöhnlicher Charakter. Ohne die übergroße Figur des Halbbart hätte er wenig zu beobachten und noch weniger zu erzählen. Es ist der Halbbart, der ihm die Welt öffnet – und darum gebührt diesem auch der Buchtitel.

2. Sie widmen das Buch Ihrem Bruder – hat das einen besonderen Grund?

Charles Lewinsky: Als kleine Buben haben mein Bruder und ich jeden Abend das Einschlafen hinausgezögert, indem wir gemeinsam Geschichten erfunden haben. Im Rückblick würde ich sagen: Diese Heldensagen – denn natürlich waren wir beiden die Helden jeder Erfindung – waren meine ersten Gehversuche für meinen späteren Beruf. Denn ich bin heute noch der Meinung: Die wichtigste Aufgabe eines Romanautors ist es, eine interessante Geschichte zu erzählen.

3. Wie sind Sie auf die Figur des Teufels-Anneli gekommen?

Charles Lewinsky: Als sie zum ersten Mal in der Geschichte auftauchte, wusste ich noch nicht, dass sie später eine so wichtige Rolle spielen würde. Sie war zunächst einmal eine ganz simple Figur: eine Frau, die vom Geschichten-Erzählen lebt. All ihre anderen Eigenschaften und Gewohnheiten habe ich erst im Lauf der Arbeit entdeckt – wie das ja auch im Leben ist, wenn man einen neuen Menschen kennenlernt.

4. Den Anstoß zu diesem Roman, haben Sie mal gesagt, gab die Idee mit der Erfindung der Hellebarde. Wie kann daraus ein Roman entstehen?

Charles Lewinsky: Der erste Ansatzpunkt zu einem Roman hat oft noch gar nichts mit dem zu tun, was man später schreibt. Oder doch nicht mehr als das Sandkorn, das die Auster zur Produktion einer Perle animiert. (Und meistens wird ja keine Perle draus.) Die Hellebarde wurde ursprünglich Halparte genannt, und als ich das Wort zum ersten Mal hörte, habe ich sofort an die Etymo­logie eines halben Bartes gedacht. Ich bin nun mal ein unverbesserlicher Wortspieler.

5. Jedes Kapitel hat ziemlich genau dieselbe Länge, und in jeder Kapitelüberschrift wird der Inhalt kurz zusammengefasst, also zum Beispiel: Elftes Kapitel, in dem der Sebi auszieht, um einen Beruf zu erlernen. Das war ja schon im Mittelalter eine bekannte Form, ist aber auch etwas, was wir heute von Netflix kennen: kurze Teaser zu stets gleich langen Episoden. Wie ist es dazu gekommen?

Charles Lewinsky: Wenn es die Geschichte erlaubt, habe ich gern einheitliche Kapitellängen (zum Beispiel in Melnitz), weil der regelmäßige Rhythmus des Erzählens es dem Leser leichter macht. Dass in der Überschrift der Inhalt des Kapitels erklärt wird, habe ich aus der Literatur des 17. Jahrhunderts übernommen, um der ganzen Geschichte einen historischen Charakter zu geben.

6. Man spürt auf jeder Seite, dass Ihnen das Schreiben Spaß gemacht hat. Was hat Ihnen ganz besonders viel Vergnügen bereitet?

Charles Lewinsky: Wenn mir das Schreiben keinen Spaß macht – wie soll dann das fertige Produkt dem Leser Spaß machen? Wobei dieser Spaß die Sache nicht weniger anstrengend macht, wie Ihnen jeder Bergsteiger gern bestätigen wird.

Bei diesem Projekt war es ein besonderes Vergnügen, neue »alte« Sagen zu erfinden – vor allem, weil es eine literarische Form war, an der ich mich noch nie versucht hatte.

7. Der Stil in diesem Roman ist schweizerisch eingefärbt und hat eine ganz eigene Melodie. Was hat Sie dazu verleitet, so zu schreiben?

Charles Lewinsky: Ich hoffe doch eigentlich, dass jeder meiner Romane eine eigene Melodie hat. Ich meine, dass sich nicht jede Geschichte in derselben Sprache erzählen lässt, und verbringe oft lange Zeit mit der Suche nach der richtigen sprachlichen Form für ein Projekt. Die schweizerdeutschen Einsprengsel sollen die Geschichte nicht nur geographisch verorten, sondern haben noch einen weiteren Zweck. Schweizerdeutsch ist ja dem Mittelhochdeutschen nahe verwandt, und so erinnert sein Vokabular den Leser immer wieder daran, dass er sich in einem anderen Zeitalter befindet.

8. In diesem Roman kommen auch viele historische Ereignisse vor: der Marchenstreit zwischen dem Kloster Einsiedeln und Schwyz, die Schlacht bei Morgarten, die Judenpogrome des 14. Jahrhunderts. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Charles Lewinsky: Über seine Recherchen sollte ein Autor nicht sprechen. Und vor allem sollte man beim fertigen Text nicht das Gefühl haben: Oh, da hat einer aber fleißig recherchiert! Ich finde, Bücherschreiben sollte nach dem »System Schwan« vor sich gehen: Über Wasser, dort, wo man gesehen wird, würdevoll gleiten, und nur unter Wasser, wo es keiner sieht, strampeln, strampeln, strampeln.

Und außerdem: Ein Roman soll keine Unterrichtsstunde sein. Es geht nicht um Geschichte, sondern um Geschichten.

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Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman Melnitz. Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger sowie den Preis der Schillerstiftung. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.