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Joachim B. Schmidt über die Weihnachtszeit in Island

© Diogenes Verlag AG

Wie sieht die Weihnachtszeit in Island aus? Der Kalmann Autor Joachim B. Schmidt gibt Einblick in die (vor)-weihnachtlichen Bräuche seiner Wahlheimat Island. Er erzählt von kurzen Tagen, brennenden Strohziegen, von den 13 Weihnachtsmännern und der Weihnachtskatze, gegen die nur ein gestricktes Weihnachtsgeschenk hilft. Joachim B. Schmidt nimmt uns auf dem Diogenes Blog mit in ein winterliches Island.

Foto: Eva Schram / © Diogenes Verlag

Weihnachten überleben in Island
Joachim B. Schmidt

»Die Weihnachtszeit in Island ist lebensgefährlich. Wer der Winterdunkelheit zu trotzen vermag, und selbst den vergammelten Rochen überlebt, wird schliesslich von der Weihnachtskatze gefressen.

Die Dezembertage in meiner Wahlheimat, knapp unterhalb des Polarkreises, dauern gerade mal vier Stunden. Aber nur bei gutem Wetter. Trotz Dunkelheit und harschen Wetterverhältnissen gehören die Isländer zu den glücklichsten Nationen der Welt. Von Winterdepression keine Spur. Zugleich sind sie gemäss einer OECD-Studie Spitzenreiter im Konsum von Antidepressiva. Hm. Wie auch immer; die Isländer lieben das Fest des Lichts, zelebrieren es, als ginge es ums Überleben.

Schon am 1. November geht die Weihnachtsdeko in den Geschäften hoch, der schwedische Möbelladen IKEA stellt seine schwedische Weihnachtsgeiss aus Stroh auf. Jetzt halten die Isländer gespannt den Atem an. Es hat sich eine ungezogene Tradition (aus Schweden notabene) eingeschlichen: Die IKEA-Geiss muss brennen. Während den letzten Jahren ist es Brandstiftern immer wieder gelungen, die Geiss bei Nacht und Nebel abzufackeln. Einmal ist eine defekte Lichterkette den Brandstiftern zuvorgekommen. Heuer steht die Geiss grösser und sturer als je zuvor. Hinter elektrisiertem Stacheldraht. Wird Tag und Nacht von Securitas-Personell bewacht.

»Weihnachten ist gleich um die Ecke!«, verkündet ein übereifriger Radiosprecher anfangs November. Wir sollen uns beeilen, die Geschenke zu besorgen, meint er, und meint es doch nicht ernst. Oder? In der Winterdunkelheit schwinden die Tage rasant dahin. Höchste Zeit, zur Alpenschneehuhn-Jagd zu blasen. 20 000 Stück dürfen heuer geschossen werden. Gebratenes Schneehuhn ist nebst Lammkeule oder Kassler ein gängiges Weihnachtsessen der Isländer. Dabei sind die gefiederten Viecher schwierig zu jagen und heikel in der Zubereitung; das Fleisch wird schnell trocken. Ganze Heerscharen von Hobby-Jägern stolpern an vier Wochenenden über die verschneiten Ebenen des isländischen Hinterlandes: »Bewaffneter Spaziergang«, nennen sie es, denn das Zeitfenster ist knapp, die Tage kurz und die weissen Hühner im Schnee fast nicht auszumachen, so dass die Jäger meist mit leeren Händen vom Spaziergang zurückkommen – wenn sie denn wiederkommen. Manchmal werden bewaffneten Spaziergänger von Wetterumstürzen überrascht, verirren sich im Schneetreiben und müssen von der Rettungswache geborgen werden. Das Wetter hier oben ist heimtückisch.

Bild von Makri27 auf Pixabay

Schliesslich neigt sich auch der November dem Ende zu. Der erste Advent bricht über die Inselnation herein – grünes Licht für alle Radiostationen. Das Gedudel geht los. Last Christmas und Do they Know it's Christmas nonstop. (Jetzt greift auch der Verfasser dieses Blogs zum Antidepressivum).

Für die Kinder wird es am 12. Dezember spannend. Dann schleicht sich ein bärtiger Geselle namens Stekkjastaur aus den Bergen in die bewohnten Gebiete: Der Samichlaus? So ähnlich. Er ist bloss einer von dreizehn Weihnachtsmännern. Sein Name beschreibt seinen körperlichen Zustand: Pferchpfosten. Gemäss der Volkskunde stelzt er steif in den Schafstall und klaut Milch. Am nächsten Tag kommt sein Bruder, Giljagaur, der Schluchtenkerl. Der schlürft Milchschaum im Kuhstall. Dem Dritten wird es gelingen, sich in die Wohnung zu schleichen und angebrannte Reste aus der Pfanne zu kratzen. An den folgenden Tagen bis Weihnachten kommen der Löffelschlecker, der Türschletzer, der Wurststibitzer, der Kerzenschnorrer – und so weiter. Was spätestens beim Auftauchen Gluggagægirs, dem Fenstergaffer, die Sittenhüter alarmieren müsste, wird indes wohlgesinnt mitverfolgt. Früher war das anders. Da verschleppten die Weihnachtsmänner unartige Kinder in ihre Höhle in den Bergen, wo die Trollmutter Grýla und deren dritter Ehemann Leppaluði (ihre zwei Ex-Männer hat sie gegessen) den grossen Topf, um die Menschen-Kinder darin zu kochen, schon parat hatten. Die Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Heute bringen die Weihnachtsmänner den Kindern Süsses oder Nützliches. Spoiler: Die Eltern sorgen dafür, dass die Kinder jeden Morgen eine kleine Überraschung in ihren Schuhen vorfinden. Wer unartig gewesen ist, kriegt eine Kartoffel.

Ob Grýla noch lebt, ist umstritten. Sie hätte nun mehrere hundert Jahre auf dem Buckel. Vielleicht hockt sie noch irgendwo da oben und nagt an einem Schafsknochen oder an ihrem dritten Ehemann.

Fürwahr, an Weihnachten entpuppen sich die modernen Isländer als traditionsbewusste Geniesser. Sie stülpen sich handgestrickte Wollpullover über und besinnen sich ihrer alten Bräuche. Gegen die Winterdunkelheit kämpft man nebst Weihnachtsmusik und Antidepressiva mit Lebertran und Lichttherapielampe. Aber dann kommt der Tag, vor dem sich viele fürchten: Der 23. Dezember, Tag des Schutzheiligen Bischofs Þorlákur. Jemand in der Familie bittet zum traditionellen Rochenessen. Schluck. Das Fleisch dieses Knorpelfisches ist eigentlich giftig. Die Rochen reichern, wie auch Haifische, Harnstoff im Blut an, der zum Druckausgleich in den Tiefen der Meere dient. Darum muss das Fleisch mindestens für einige Wochen verbuddelt werden und fermentieren, also vergammeln, damit eine chemische Reaktion stattfindet, das Fleisch geniessbar wird und es niemanden mehr umbringt. Guten Appetit! Der Ammoniakgestank ist mörderisch. Überlebt man den Rochenschmaus und kommt geläutert nach Hause, ist noch nicht Feierabend. Den Gestank hat man mitgenommen, und die Kleider müssen subito in die Waschmaschine.

Photo by rocknwool on Unsplash

Wohl darum wird an Heiligabend meist Hangikjöt - geräuchertes Lammfleisch - serviert, dessen Geruch den Rochengestank übertüncht.  Nach dem üppigen Festmahl sitzt die Familie um den Weihnachtsbaum und öffnet Geschenke. Nichts Aussergewöhnliches. Überlebenswichtig ist aber, dass man etwas Gestricktes bekommt, einen Wollpullover oder zumindest Wollsocken. Denn sonst wird man von der Weihnachtskatze gefressen! Die schleicht während dieser Tage um die Häuser. Sie soll riesig sein, etwa so gross wie ein Lastwagen, mit gelb glühenden Augen. Blickkontakt gilt es strikte zu vermeiden. Aber wem gehört denn diese monströse Katze? Man hat´s erraten - der Tollfrau Grýla! Wohl darum bleibt man lieber in der sicheren Stube hocken und verbringt die folgenden Tage im gemütlichen Beisammensein der Familie, stopft Lamm zu gezuckerten Kartoffeln, Kekse und Schokolade in sich hinein und spült alles mit Lakritz-Bier runter, schliesslich sind Wollpullover dehnbar. Gleðileg Jól!

Wohl darum wird an Heiligabend meist Hangikjöt - geräuchertes Lammfleisch - serviert, dessen Geruch den Rochengestank übertüncht.  Nach dem üppigen Festmahl sitzt die Familie um den Weihnachtsbaum und öffnet Geschenke. Nichts Aussergewöhnliches. Überlebenswichtig ist aber, dass man etwas Gestricktes bekommt, einen Wollpullover oder zumindest Wollsocken. Denn sonst wird man von der Weihnachtskatze gefressen! Die schleicht während dieser Tage um die Häuser. Sie soll riesig sein, etwa so gross wie ein Lastwagen, mit gelb glühenden Augen. Blickkontakt gilt es strikte zu vermeiden. Aber wem gehört denn diese monströse Katze? Man hat´s erraten - der Tollfrau Grýla! Wohl darum bleibt man lieber in der sicheren Stube hocken und verbringt die folgenden Tage im gemütlichen Beisammensein der Familie, stopft Lamm zu gezuckerten Kartoffeln, Kekse und Schokolade in sich hinein und spült alles mit Lakritz-Bier runter, schliesslich sind Wollpullover dehnbar. Gleðileg Jól!«

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Kalmann

Dieser Text erschien bereits in der Schweizer Regionalzeitung Pöschtli unter der Rubrik Traditionen (S. 10-11, Pöschtli vom 21.12.2017). Die Version auf dem Blog wurde vom Autor leicht abgewandelt.

Wer jetzt Lust auf mehr Island bekommen hat oder eine Geschichte mit Island-Flair verschenken möchte ist mit dem Islandroman Kalmann genau richtig.

Und für mehr Weihnachtsfeeling liest Joachim B. Schmidt seine eigene Weihnachtsgeschichte.