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»Tell ist eine Schweizer Isländersaga.«
Ein Interview mit Joachim B. Schmidt

Historischer Schmöker, Thriller und endlich im 21. Jahrhundert angekommen: Tell reloaded! 
Die alten Isländersagas haben den Schweizer Autor, der seit über zehn Jahren in Island lebt, inspiriert. Nun hat Joachim B. Schmidt nach den Schweizer Kronjuwelen gegriffen und die Tell-Saga neu erfunden. Der neue Roman des Autors von Kalmann ist am 23. Februar erschienen. Im Diogenes-Interview spricht er über seine Beweggründe, sich dieses Stoffes anzunehmen und wir erfahren, wie es ihm gelungen ist, isländische Erzählelemente mit diesem Schweizer Ur-Mythos zu verflechten. 

Foto: Eva Schram / © Diogenes Verlag

Herr Schmidt, im Ernst: Friedrich Schiller hat den Tell-Mythos zu den Massen gebracht, Max Frisch hat diesen Mythos dekonstruiert. Der Stoff wurde vertont, verfilmt, illustriert, parodiert – braucht es einen neuen Tell?

Joachim B. Schmidt: Ja, unbedingt. Und es ist mein voller Ernst! Ich finde ja, wir Schweizer haben ein sonderbares Verhältnis zu unserem Nationalhelden. Schiller hat Tell zwar weltberühmt, aber zugleich pathetisch und in seiner geschwollenen Sprache für die folgenden Generationen unnahbar gemacht. Später gossen Bildhauer Tell in Bronze; ein bärtiger Bodybuilder, ein Übermensch, der in Altdorf auf einem Sockel über uns thront. Dann kam Frisch, hat die Fakten recherchiert, sie hinterfragt, und einen wunderschönen Text vorgelegt. Heute nimmt fast niemand mehr den Tell noch wirklich ernst.

Was also vermissen Sie?

Joachim B. Schmidt: Etwas ist im Pathos, im Ulk und im Faktencheck untergegangen: Es handelt sich um eine tragische und hochdramatische Geschichte, die ich heutiger, spannender aber auch menschlicher neu erzählen wollte. Der Plot bleibt hochbrisant. Wenn man die Beweggründe der Leute unter die Lupe nimmt, tut sich ein menschlicher Abgrund auf. Ich möchte Tell zurück auf den matschigen Boden der Realität holen.

Photo by MarlonTrottmann on Pixabay

Aber auch Sie bleiben historisch.

Joachim B. Schmidt: Ja, weil in der historischen Betrachtung absolut spannende Elemente neu zu entdecken sind. Schillers Kunstsprache hingegen ist längst veraltet. Frischs damals wichtige intellektuelle Auseinandersetzung mit der Schweiz und ihrem Mythos ist inzwischen auch überholt. Die Schweiz, die Welt, die Leserschaft hat sich verändert. 

Trotzdem heißen Ihre Protagonisten Gessler, Harras – wie bei Schiller.

Joachim B. Schmidt: Die Schiller-Version ist mein Fundament. Sie ist am bekanntesten. Zudem hat Schiller tolle Namen für seine Protagonisten gewählt. Wussten Sie, dass Hedwig »Kämpferin« heißt? Das verpflichtet. Und wenn einer Harras heißt, braucht man nicht weiter zu erklären, dass dieser Harras austeilen und einstecken kann.

Und doch distanzieren Sie sich schon auf den ersten Seiten von Schiller: Walter macht die Armbrust seines Vaters kaputt. Ein symbolischer Akt?

Joachim B. Schmidt: Es ist ein willkürlicher, psychologisch motivierter Akt. Walter lässt seinen Frust über den unnahbaren Vater an dessen Armbrust aus. Zudem ergibt es keinen Sinn, dass Tell bewaffnet ins von den Habsburgern besetzte Altdorf latschen würde. Es würde an Dummheit grenzen. Tell hat zwar seine Macken, aber blöd ist er eigentlich nicht.

Was hat Sie an der Tell-Legende denn so fasziniert, dass Sie sie neu schreiben wollten?

Joachim B. Schmidt: Die Tragik, die Spannung, der Horror. Es ist ein moderner, blutiger Bergbauern-Thriller. Brutales Kopfkino. Eine unüberlegte Gewalttat löst einen Teufelskreis aus, der immer größere Kreise zieht. Im Mittelpunkt stehen Vater und Sohn. Das Thema Vaterschaft zieht sich durch das ganze Buch, und damit meine ich nicht nur Tell und seinen Sohn, sondern auch den Landvogt und seine Tochter, den Pater und seine Schäfchen etc. Vaterschaft ist ein Thema, das auch mich täglich beschäftigt, die Angst, dass dem eigenen Kind etwas zustoßen könnte, ist immer da. Wenn ich mir vorstelle, dass ich meinem Sohn einen Apfel vom Kopf schießen müsste, würde ich lieber sterben wollen. Diese Angst ist ein zeitloses Thema, das seit Jahrhunderten tief in der Tell-Legende versteckt ist – nicht nur in der berühmten Apfelschuss-Szene.

Kalmann ist Ihr erstes Buch bei Diogenes, aber Ihr vierter Islandroman. Wieso jetzt diese Kehrtwende? Haben Sie etwa Heimweh?

Joachim B. Schmidt: Heimweh? Immer. Kehrtwende? Ganz im Gegenteil. In meinem Tell steckt viel mehr Island, als man vielleicht auf den ersten Blick sieht. Aber dazu müsste ich ein wenig ausholen. Darf ich?

Ich bitte Sie!

Joachim B. Schmidt: Ich erzähle die Geschichte aus der Perspektive der Protagonisten. Es ist eine Stilform, die ich meinem isländischen Kollegen Einar Kárason abgeschaut habe. In den Sturlungen-Büchern erzählt Kárason den isländischen Bürgerkrieg des 13. Jahrhunderts und lässt die Protagonisten selbst reden. Dadurch erhalten die Geschehnisse eine Gegenwärtigkeit und Authentizität, als wäre man als Reporter vor Ort. Kárasons Erzählstil hat einer jungen Generation die Tür zu Islands Vergangenheit geöffnet. Auch die Isländersagas haben mich inspiriert. Sie färben auf Tell ab.

Wie das?

Joachim B. Schmidt: Dass Tell seine verstorbene Mutter auf den Armen trägt, dass er nach seiner schrecklichen Vergeltungstat in den Berg geht, wo er fortan über die Gegend wacht, aber auch die Rollen der Frauen, oder dass Tell einen Bruder hatte, der viel schöner, geschickter und mutiger war und von allen geliebt wurde: In den isländischen Sagas gibt es häufig einen Lichthelden und einen Dunkelhelden. Der Lichtheld stirbt früh in der Geschichte, der Dunkelheld muss dann in dessen viel zu große Fußstapfen treten. 

Wie stehen eigentlich die Isländer zu ihren Sagas?

Joachim B. Schmidt: Sie haben keine Burgen und Schlösser, keine Kathedralen und Pyramiden. Aber sie haben ihre Sagas: einzigartige, unglaublich kostbare Manuskripte, Geschichten, die sich ums Jahr 1000 abspielen, aber erst im 13. und 14. Jahrhundert zu Papier – oder vielmehr Kalbshaut – gebracht worden sind. Obwohl diese Geschichten während zwei- bis dreihundert Jahren mündlich überliefert worden waren, sind die Isländer, im Gegensatz zu den misstrauischen Schweizern, viel gewillter, an ihre Helden zu glauben, auch wenn deren Existenz nicht bewiesen werden kann. Die Isländer sagen immer: »Wieso eine gute Geschichte mit Fakten kaputtmachen?«
Ich fände es schön, wenn auch wir auf unseren Tell wieder stolz sein würden, selbst wenn dieselbe Apfelschuss-Geschichte auch in anderen Ländern zu finden ist.

Photo by mploscar on Pixabay

Passen Sie auf, jetzt sind Sie im Begriff, eine gute Geschichte mit Fakten kaputtzumachen!

Joachim B. Schmidt: Ich gebe es zu: Ich habe Fakten recherchiert. Als wichtige Grundlage diente mir Jean-Francois Bergiers 460 Seiten starkes Buch Wilhelm Tell: Realität und Mythos. Bergier führt an, dass das zentrale Motiv der Tellgeschichte, der Befehl, einen Apfel vom Kopf des eigenen Kindes zu schießen, auch in nordischen Erzählungen zu finden ist, Tyrannenmord inklusive. Nördlich des 54. Breitengrades hat fast jedes Volk seinen Wilhelm Tell. Manchmal ist die Armbrust ein Pfeilbogen, einmal ist der Apfel eine Haselnuss. Bergier vermutet des Weiteren, dass die skandinavischen Erzählungen mündlich über die Alpen und in die Schweiz gelangt sein könnten, durch Pilgerer, die seinerzeit durch die Urschweiz bis nach Rom wanderten – und zurück.
Ich habe diesen Spieß umgedreht: Ich lasse einen isländischen Pilger, einen Protagonisten aus Einar Kárasons Sturlungen notabene, Zeuge des Apfelschusses werden. Im Sinne von: »Wer hat´s erfunden?« Die Vorstellung, dass ebendieser Isländer die Story in den Norden exportiert hat, ist so amüsant wie plausibel. Tell ist eine – unsere Schweizer Isländersaga!

Aber eben trotzdem modern.

Joachim B. Schmidt: Richtig. Die Protagonisten könnten in der heutigen Zeit anzutreffen sein. Tell ist ein Querulant, der den Behörden prinzipiell misstraut und illegal Jagd auf Wild macht. Er ist ein Eigenbrötler, wortkarg und abweisend. Die Habsburger wiederum benehmen sich wie amerikanische Soldaten in Afghanistan. Sie sind blutjung, entwurzelt, zugedröhnt und verhalten sich überheblich gegenüber der lokalen, in ihren Augen rückständigen Bevölkerung. Gessler ist eigentlich ein ganz anständiger Kerl, aber mit seiner Aufgabe überfordert. Ein »fish out of water«. Es ist die Ambivalenz von Gut und Böse, die die Geschichte modern macht.

Als wahrer Bösewicht entpuppt sich aber ein katholischer Priester.

Joachim B. Schmidt: Kindsmissbrauch in der katholischen Kirche ist leider noch heute ein Thema. Aber auch da habe ich Grautöne angemischt. Nicht alle Priester sind pädophil. Und die Nonnen nehmen die gestohlenen Äpfel der Habsburger nur deshalb an, weil sie keinen Zoff mit ihnen wollen.

Sie sind auf dem Bauernhof des Dominikanerinnen-Klosters in Cazis aufgewachsen. Ist Ihr Tell auch autobiographisch?

Joachim B. Schmidt: Ein klein wenig schon. Während meiner Kindheit stand ich mit zwanzig Schwestern auf dem Feld, bei der Heu- oder Kartoffelernte beispielsweise. Auf der Alp am Julier zählte ich die Rinder, melkte Kühe und stand dem Senn in der Käserei im Weg. Ich jagte den Murmeltieren nach und kletterte in den Felsen rum. Einmal trampelte ich fast auf eine Kreuzotter. Diese Kindheitserinnerungen haben mir beim Schreiben sehr geholfen.

Zum Schluss: Glauben Sie, dass es Tell gegeben hat?

Joachim B. Schmidt: Ja, ich bin überzeugt. Eine solche Geschichte erfindet man nicht einfach so. Sie ist ein kostbares Erbe. Wir sollten es in der Literatur unbedingt zelebrieren.

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Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten, Journalist und Kolumnist. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

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