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»In meinen Büchern verzahnt sich private Geschichte immer wieder mit der politischen.« Lukas Hartmann über seinen neuen Roman.

In seinem neuen Buch Auf beiden Seiten erzählt Lukas Hartmann die bewegende Geschichte einer Familie, die am eigenen Leib erfährt, dass das Politische viel privater ist, als sie denkt – und umgekehrt. Es geht um Generationenkonflikte, ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte und um gegensätzliche Ideoloigen. Wir trafen den Berner Autor zum Gespräch.

Foto: © Bernard van Dierendonck

In Ihrem neuen Roman Auf beiden Seiten gehen Sie in die Zeit des Kalten Krieges zurück und besonders in dessen letzte Jahre. Was war der Anlass dazu?

Lukas Hartmann: Diese Umbruchzeit hat mich nie losgelassen, der Stoff lag schon lange in mir bereit. Nach einem Berlinaufenthalt vor drei Jahren habe ich mich ihm intensiv zugewandt. Ich traf alte Bekannte aus der Zeit von 89/90 wieder, Deutsche und Schweizer, wir sprachen darüber, wie wir uns seither verändert haben – und in welchem Licht uns heute die Wende erscheint.

Eine der drei Hauptfiguren des Romans ist Dr. Armand Gruber, ein engagierter Deutschlehrer, ein glühender Schweizer Patriot und Konservativer. Und ein Mann, der jahrzehntelang ein Doppelleben geführt hat: Er war Mitglied bei der Schweizer Geheimarmee P-26 (Projekt 26). Was ist die P-26, und was hat Sie daran interessiert?

Die P-26 war eine geheime Organisation, die im Fall einer sowjetischen Besatzung den Widerstandswillen in der Schweiz stärken sollte. Sie wurde um 1980, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, von nachrichtendienstlichen Kreisen ins Leben gerufen und bestand aus Kleinstzellen, die untereinander keinen Kontakt hatten. Die rund 400 Mitglieder, rekrutiert aus dem bürgerlichen Milieu, wurden zum Teil durch den britischen Geheimdienst MI6 ausgebildet und übten in speziellen Kursen den Waffengebrauch, dazu planten sie Aktionen, die den Feind verwirren oder auch lächerlich machen sollten. Die Schweizer Regierung wusste nichts davon, die P-26 war der demokratischen Kontrolle entzogen. Als eine parlamentarische Untersuchungskommission kurz nach der Wende, 1990, diese Geschichte aufdeckte, war der Skandal perfekt; dazu kam noch die sogenannte »Fichen-Affäre«, bei der ans Licht kam, dass man Hunderttausende von kritisch gesinnten Schweizer Bürgern (darunter auch mich) jahrelang bespitzelt und Fichen, das heißt Karteikarten, über sie angelegt hatte.  Mich beschäftigt, wie groß damals die Furcht vor einer Invasion durch den „Klassenfeind“ war und in welchem Maß sie den Respekt vor demokratischen Regeln untergrub. Und mich interessiert, wie unterschiedliche Lebenserfahrungen zu konträren Haltungen führten und den Konflikt zwischen den 68ern und der Generation ihrer Väter verschärften.

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Die Gegenfigur zum Deutschlehrer Gruber im Roman ist Mario Sturzenegger. Er war Grubers Schüler, hat später Grubers Tochter Bettina geheiratet und ist zum linken Journalisten geworden. Haben Sie mit ihm ein Porträt Ihrer Generation gezeichnet?

Ich gebe ihm in der Tat einige meiner eigenen Erfahrungen mit, wobei ich dann einen sehr anderen Weg gegangen bin als er. Die ideologischen Konturen dieser Generation sind brüchig geworden oder haben sich ganz aufgelöst. Viele meiner ehemaligen Kollegen aus dem Journalismus sind, politisch gesehen, unmerklich in die Mitte gewandert, schreiben nun Reportagen über Weinberge und Antarktisreisen, einige vertreten heute nicht mehr linksradikale, sondern ebenso scharfzüngig rechtsnationale Positionen. Oder sie sind versumpft in billigem Zynismus. Ich frage mich, mit dem Blick auf Mario: Auf welche Weise verändern sich Haltungen, Weltbilder? Ist es das Gewicht der komplexen Realität, dem man sich nicht entziehen kann? Ist es ein Reifungsprozess oder die resignative Einsicht, dass das Anrennen gegen Ungerechtigkeiten oft genug nichts bewirkt? Oder sogar das Gegenteil von dem, was man gewollt hat.

Dr. Armand Gruber ist ein großer Verehrer des österreichischen Schriftstellers Adalbert Stifter und schreibt in seiner Freizeit an einer Biographie über ihn. Schätzen Sie Stifter?

Ich mag einige seiner Novellen, den ruhigen Sprachfluss. Aber sein Harmoniebedürfnis hat mich schon als Jugendlicher gestört. Und ich war nicht erstaunt, als ich aus seiner Biographie erfuhr, welche Unruhe in ihm herrschte, wie gewalttätig er offenbar sein konnte  und wie depressiv am Ende seines Lebens. Gruber erkennt in ihm einen Gleichgesinnten, einen, der sich, wie er, in ein Doppelleben hineinzwingt, sich schreibend von der Unordnung der Welt abwendet und an einem Gegenbild baut, in dem er die Katastrophen zu bändigen vermag.

In Grubers Erzählstimme wird deutlich, wie die Demenz die Ordnung seiner Gedanken aufbricht. War es schwierig, diese Passagen zu schreiben?

Ja, ich habe vorab mit Fachleuten ausgiebig über das Fortschreiten von Sprachzerfall und Erinnerungsverlust bei Demenzkranken gesprochen. Aber es war dann faszinierend, mich in Gruber hineinzuversetzen, mich von Assoziationen leiten zu lassen und die Kontrolle über Form und Inhalt ein Stück weit aufzugeben. Hinterher habe ich jeweils festgestellt, wie viel an unbewusstem Material da hineingeflossen ist.

Die dritte Stimme im Roman gehört einer ›angry young woman‹, Karina. Wer ist diese Frau?

Karina ist die Schulfreundin von Grubers Tochter und wohnt mehrere Jahre auf dem Gelände des Geheimdienstes; ihr Vater ist dort Hausmeister. Sie erlebt das Misstrauensklima in dieser Behörde aus nächster Nähe, rebelliert mit allen Mitteln dagegen und schwärmt andererseits für deren schillernden Chef, der sie dazu benutzt, ihren Vater auszuspähen.

Ist Auf beiden Seiten ein politischer Roman? Oder die private Geschichte einer Familie?

Das eine kann und will ich vom andern nicht trennen. In meinen Büchern verzahnt sich private Geschichte immer wieder mit der politischen, und ich bin seit langem fasziniert davon, wie sich beide Bereiche gegenseitig beeinflussen – und wie auch Familien nicht bloß Opfer geschichtlicher Ereignisse sind, sondern sie, offen oder verleugnet, mitgestalten.

Im Herbst 2014 wurde das 25-Jahre-Jubiläum des Mauerfalls gefeiert – wo waren Sie am 9. November 1989?

Ausgerechnet am 9. November kehrte ich von einer längeren Afrikareise zurück. Während vier Wochen hatte ich aus Europa beinahe nichts vernommen. Und in dieser Zeit, so kam es mir vor, hatte sich Unglaubliches ereignet. Als ich um Mitternacht den Fernseher einschaltete, standen die Leute jubelnd auf der Berliner Mauer. Diese nahezu surreale Erfahrung teile ich mit Mario im Roman.

Der Marx-Engels-Platz und der Palast der Republik in Ost-Berlin im Sommer 1989. Am Brandenburger Tor, November 1989. Foto links: Arne List (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons / Foto rechts: Sue Ream, [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons.

Bei der Lektüre Ihres Romans, besonders der Schilderungen einer Reportage-Reise von Mario nach Ost-Berlin, werden unheimliche Parallelen zwischen dem Spitzelstaat DDR und einer freiheitlichen Demokratie wie der Schweiz sichtbar. Sind unsere modernen westlichen Demokratien für solche Auswüchse immer noch anfällig?

Eine Art von Spiegelbildlichkeit hat mich im Blick auf die DDR in der Tat immer wieder irritiert. Der Schriftsteller Walter Vogt hat einmal geschrieben, ihm komme die DDR vor wie eine Schweiz ohne Geld. Das war eine Provokation. Heute denke ich: Er hatte, was das denunziatorische Klima betraf, gar nicht so unrecht. Das wollte ich aufgreifen. Und zugleich sehe ich, wie anfällig, wie verletzbar gerade auch heute die freiheitlichen Demokratien sind. Die digitalen Möglichkeiten erlauben es, so viel über uns zu sammeln und zu wissen wie nie zuvor. Das stellt die Einträge auf Karteikarten längst in den Schatten. Und dass Firmen unsere Konsumgewohnheiten inzwischen minutiös erfassen können, lädt Geheimdienste jeder Couleur dazu ein, uns auch als Staatsbürger zu kontrollieren. Wie wir uns dagegen wehren können (wenn überhaupt), wird sich erst noch herausstellen. Das ist eine der großen Fragen unserer Zeit.

 

Auf beiden Seiten von Lukas Hartmann ist am 25.3.2015 erschienen. Auch als E-Book.