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»Die Öffnung der Mauer hatte ich für unmöglich gehalten.« – Lukas Hartmann Bonus-Texte

Vor 25 Jahren fiel in Berlin die Mauer – wie haben Sie die Wende erlebt? In Lukas Hartmanns neuem Roman Auf beiden Seiten befragt die Hauptfigur, der Journalist Mario Sturzenegger, für eine Zeitschrift verschiedene Menschen aus Deutschland und der Schweiz nach ihren Erinnerungen an die Jahre 1989/1990.

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Diese Gespräche gehörten in einer früheren Version zum Roman, sind aber in der definitiven Fassung nicht mehr enthalten. Hier gibt es die so unterschiedlichen wie faszinierenden Porträts als exklusives Bonus-Material zu lesen.

Sie sind fiktive Texte, beruhen aber auf Interviews, die der Autor tatsächlich geführt hat. »Die Porträtskizzen«, erzählt Lukas Hartmann, »haben Stimmungen und einzelne Passagen des Romans beeinflusst und, gerade in ihrer Unterschiedlichkeit, mein eigenes Bild der Jahre 89/90 erweitert und bereichert. Ein großer Dank den Menschen, die mit mir gesprochen und ihre Erinnerungen geteilt haben.«

Lesen Sie hier den letzten Teil der 5-teiligen Porträtserie.

Foto: © Dennis Skley (CC BY-ND 2.0) via Flickr.com

Jean B., damals 50, Sozialarbeiter und Winzer (Frankreich, Schweiz)

Im Februar ʼ89 starb meine Frau an Tumoren in Kopf und Lunge. Ich habe sie in den Tod begleitet, um sie getrauert, mich neu orientiert. Das Weltgeschehen habe ich nur fragmentarisch wahrgenommen. Im Sommer wagte ich mich in eine neue Liebe hinein, und auch das besetzte mich mit voller emotionaler Wucht. Neben den Rückfällen in Trauer gab es jetzt ebenso starke Höhenflüge. Mein Blick in die private Zukunft heiterte sich auf.

Natürlich entging mir der Fall der Mauer nicht. Was da geschah, war ja omnipräsent in allen Medien, und es freute mich durchaus. Mit der neuen Liebe war die Hoffnung verbunden, dass die Welt nun doch friedlicher würde. Doch irgendwo an einem Bahnhof sah ich ein Plakat hängen, das mich nachdenklich stimmte. »Gesucht: neues Feindbild!« stand darauf. Der Westen, dachte ich, braucht nun leider in der Tat einen neuen Feind, um sich geeint zu fühlen. Wer würde das sein? Dazu sagte ich mir, es sei wohl Zufall, dass das kommunistische System vor dem kapitalistischen zusammengebrochen war. Diese Meinung vertrete ich noch heute: Die Finanzkrisen werden uns künftig in immer dichterer Folge heimsuchen. Die Gier, die der schrankenlose Kapitalismus erzeugt, macht vor nichts halt.

Ich muss auch sagen: Der Fichenskandal, der zur gleichen Zeit die Schweiz erschütterte, überraschte mich nicht. Ich hatte mich gegen das AKW Kaiseraugst engagiert, Informationsveranstaltungen organisiert, Broschüren verfasst. Und ich war überzeugt, dass man mich bespitzelt und x-fach denunziert hatte, dass ich zu den potentiellen Landesverrätern zählte. Ich forderte meine Fiche an und war dann perplex und beinahe beleidigt, als sie leer war. Einfach leer: der Jean ohne Eintrag, der Jean kein Staatsfeind. Die hatten beim Geheimdienst geschlampt. Oder es war bei uns doch weit harmloser als in der DDR, obwohl ein Schriftsteller mal gesagt hatte: Die Schweiz sei eigentlich eine DDR mit viel Geld.

Ich hatte mir, wenn ich jetzt kritisch zurückblicke, doch einen Aufbruch zu einem neuen Europa, einem gerechteren und sozialeren, erhofft. Und wie ist es jetzt? In der EU mit ihrer Osterweiterung herrscht vorwiegend Konfusion und Streit, man taumelt von Krise zu Krise. Nach wie vor belohnt das kapitalistische System skrupellose Schlitzohren, die Brüsseler Subventionen versanden bei den Banken und versickern in den Randzonen der EU.

Und dann steht wieder deutlich im Vordergrund, was für mich in der Wendezeit am wichtigsten war: der Umgang mit dem Tod eines geliebten Menschen. Der Tod macht mir seither keine Angst mehr. Es ist schon so: Die kleinen Gemeinschaften, die Nähe zu Freunden und zur Familie: Das ist für mich wichtiger geworden als der politische Rahmen.

Zeno W., damals 36, Journalist, Musiker (Schweiz)

Ich durchblättere meine Agenda von 1989, die habe ich noch, und  versuche so das Wichtigste zu rekonstruieren. Einverstanden?

Im Januar beschloss ich, Chinesisch zu lernen. Mein Lehrer, ausgewanderter Chinese, war als Geschäftsmann nicht sehr erfolgreich, er ließ durchblicken, dass er die Kommunisten hasste, und verdiente sich ein Zubrot mit Sprachlektionen. Ständig beklagte er sich, dass er bei Familienbesuchen in China viel zu viele Geschenke mitbringen müsse. Ich nahm Stunden bei ihm bis Mitte Jahr. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz fiel die Klasse auseinander. Ich fand eine neue Lehrerin, auch sie war Chinesin, Germanistikstudentin. Sie erzählte, wie sie als junges Mädchen in der Mao-Zeit Ernteeinsätze auf dem Land geleistet hatte. Sie hätten Ideale gehabt in dieser Zeit. Die Ereignisse auf dem Tiananmen- Platz  machten sie sprachlos. Sie wusste nicht, für wen sie Partei ergreifen sollte.

Ich fing mit einer Ausbildung zum Shiatsu-Therapeuten an. Um Geld zu verdienen, machte ich Nachtschichten in einer Einrichtung für Drogenentzug. Die war in einer total verrauchten Altwohnung untergebracht. Alles an mir begann nach Zigarettenrauch zu riechen. Die Teamsitzungen  waren ätzend und chaotisch. Mitte Monat kam eine Siebzehnjährige zwangsweise zum Entzug. Sie schwärmte vom Drogentreffpunkt Platzspitz in Zürich, wo alle Junkies eine große Familie seien. Ein anderer traf ein zu seinem vierzehnten Entzug. Ein Entzug galt als erfolgreich, wenn jemand fünf Tage ausharrte und clean blieb.

Ende Januar rutschte ich bei einem Waldspaziergang auf dem Schnee aus und brach mir das Schlüsselbein, arbeitete aber trotzdem weiter. Das Durcheinander von Alternativ-, Polit- und Drogenszene fand ich immer unerträglicher, auch die Buchhaltung stimmte nicht. Ich suchte einen Psychiater auf, der diagnostizierte psychische Erschöpfung, riet mir dringend, mich von den Klienten deutlicher abzugrenzen. Nach diesem Gespräch, Mitte März – schau, da steht es – kündigte ich meinen Job mit größter Erleichterung. Weder Shiatsu noch Makrobiotik waren Schutzzauber genug gegen die Drögeler-Power.

Ich traf einen alten Kumpel aus meiner Zeit als Schlagzeuger, wir beschlossen, zusammen ein paar Songs zu kreieren, und merkten uns ein Zitat von Vater Mozart: »… vergiss also das sogenannte Populare nicht, das auch die langen Ohren kitzelt.« Im April traten wir zum ersten Mal gemeinsam auf, ich versuchte mich als Multiinstrumentalist, tosender Applaus. Damit begann für mich eine neue Karriere, der Erfolg kam allmählich.

Im Juli nahm ich teil an einem Musikworkshop im Berner Oberland, ich improvisierte mit einem amerikanischen Cellisten, wir steigerten uns in einen kreativen Rausch hinein. Danach sagte mir die Freundin des Cellisten, ich solle das Shiatsu aufgeben, nur noch Musik machen.

Im September musste ich meinen einmonatigen Gefängnisaufenhalt wegen Militärdienstverweigerung antreten. Es war eine Strafe mit sogenannter Halbfreiheit: Einrücken um 18 Uhr 30, um 7 Uhr früh Verlassen des Gebäudes, die Wochenenden von Freitagabend bis Montag früh in der Einzelzelle. Ich schrieb viel in dieser Zeit, komponierte.

Und der 9. November, da ist er ja: Während die Berliner Mauer fiel, spielte ich in einem Betonkeller Blues mit einer Kollegin. Die Bilder in der Zeitung am nächsten Tag ließen mich ziemlich unberührt. Kein Gefühl von Wendezeit, eher der Eindruck von feiernden Fans einer siegreichen Fußballmannschaft. Beeindruckt hatte mich aber einen Monat zuvor Kurt Masur, der bisher unpolitische Dirigent, der in Leipzig mit einer gezielten Intervention die Machthaber davon abhielt, gegen die Demonstranten Gewalt einzusetzen.

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons

Immer noch November: Ich spielte in Salecina, führte auf der Rückfahrt mit einer linken Politikerin ein Gespräch. Wunderte mich darüber, wie persönlich sie den Zusammenbruch des »realen Sozialismus« nahm. Begriff (nein, begriff nicht), dass man sich mit Herz und Glauben einer politischen Idee verschreiben kann.

Silvester im Ferienhaus der Tante meiner Freundin. Kaum Schnee, bis 2000 Meter über Meer alles grün. In einer Sonntagszeitung dann die Bilder vom Umsturz in Rumänien, das Ehepaar Ceausescu im improvisierten Gerichtssaal. Der neue Regierungschef trug einen Pullover. Ich dachte: Im Pullover gegen die Securitate, das geht also auch.

Walter P., damals 44, Historiker (Deutschland, Schweiz)

Wenn ich heute an diese Jahre denke, sehe ich als Erstes Menschen durch ein Loch im Zaun rennen, irgendwo an der ungarisch-österreichischen Grenze. Es sind vor allem Junge aus der DDR, die den Durchschlupf zum Westen nutzen, um dort ein besseres und freieres Leben zu finden.

Später die Bilder von den Leuten, die siegestrunken auf der Mauer stehen, von der bewaffnete Vopos sie bisher fernhielten. Keine Todesschüsse mehr! Ich war aufgewühlt von solchen Bildern. All die Begegnungen mit den Ossis in ihren Trabis, die in Westberlin mit Jubel überschwenglich begrüßt und  beschenkt wurden. Und zugleich dachte ich, dass Kohl sie mit seinem 1:1-Umtausch gekauft habe, dass sie alle unterwegs seien zum nächstgelegenen Supermarkt, um Südfrüchte zu kaufen.

Foto: © Frits Wiarda (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Die Öffnung der Mauer hatte ich für unmöglich gehalten. Ich glaubte an den Anfang einer Friedensära, jedenfalls ans Ende der Kalten Kriegs. Aber als Francis Fukuyama »Das Ende der Geschichte« verkündete, weil jetzt Liberalismus und Demokratie auf der ganzen Linie gesiegt hätten, hielt ich dies für eine Illusion. Schon bald war die Rede davon, dass der neue Feind des Westens der Islamismus sei. Am meisten aber beschäftigte mich, ob mit dem Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus« die Idee des Sozialismus überhaupt zu Ende sei.

Ich war aktiv in der Sozialdemokratischen Partei, galt auf nationaler Ebene als Bildungsexperte. Ich ging davon aus, dass die westlichen Sozialisten nun endlich ihre Linie einhalten könnten, ohne sich dauernd für die Verwandtschaft mit den Sozialisten des Ostblocks entschuldigen zu müssen.

Kurz nach dem Mauerfall, noch vor der Wiedervereinigung, lernte ich auf einer Wanderwoche im Engadin drei Ostberliner kennen, darunter Christina, Familienmutter, und blieb mit ihnen in Kontakt. Ich besuchte sie mehrmals in Berlin, lernte ihren Alltag in der Endphase der DDR kennen. Die Einfachheit und Herzlichkeit, die ich antraf, zog mich an. Ich bekam mit, was Christina sich für Hoffnungen machte. Sie wollte reisen, bisher Verbotenes lesen, Kontakte knüpfen. Viele ihrer Hoffnungen erfüllten sich nicht. Sie verlor ihre Stelle, wurde »abgewickelt«, wie es so schön hieß, sie musste lernen, sich in einer Wettbewerbsgesellschaft zu behaupten. Vor allem ihretwegen bekam ich den Eindruck, dass die Wessis auch etwas von den Ossis hätten lernen können; das geschah kaum.

Was mich beeindruckte: wie schnell Honecker, samt seiner stählernen Frau, abstieg, zur Lachnummer wurde. »40 Jahre DDR« hatte er noch gefeiert, als ob sein Staat in voller Blüte stünde. In der Presse wurde ausgeschlachtet, was für Privilegien sich die DDR-Nomenklatura gegönnt hatte. Das blieb allerdings ja bescheiden im Vergleich mit dem überbordenden Luxus der Millionäre im Westen. Amüsant und zugleich traurig fand ich, dass ein hochgestellter Funktionär alte Pflastersteine aus DDR-Kleinstädten an den Westen verkaufte, um Devisen zu ergattern.

Heute scheinen mir die Jahre ʼ89 bis ʼ91 unendlich weit weg. So viel hat sich seither verändert. Was allein die Verbreitung des Handys, die Digitalisierung aller Lebensbereiche bewirkt!  Die Jahre bis 1989 konnte man noch als Nachkriegszeit einschätzen, mit allen ihren Schattenseiten. Seither ist die Welt gealtert. Aber natürlich bin auch ich um zwei Jahrzehnte älter geworden.

Foto: © Bernard van Dierendonck

Auf beiden Seiten von Lukas Hartmann ist am 25.3.2015 erschienen. Auch als E-Book.

Ein Interview mit Lukas Hartmann zu seinem neuen Roman gibt es hier.