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Petros Markaris: »Griechen sind wir nicht durch Geburt, sondern durch Teilhabe an der griechischen Bildung.«

Übersetzerin Michaela Prinzinger spricht mit dem beliebten griechischen Autor über »Deutsches« und »Griechisches« in seinem Leben und Werk. Der »vierte« Band der Krisen-Trilogie bildet den Ausgangspunkt für Rückschau und Ausblick. Sowohl Autor als auch Übersetzerin hoffen, zu neuen Ufern – jenseits der Krise – aufbrechen zu können!

Deutschland und die deutsch-griechischen Beziehungen finden in den letzten Krimis immer breiteren Raum. Es fing an mit dem deutsch-türkischen Ermittler und seiner Frau im Roman Die Kinderfrau, es ging weiter mit einem Deutschgriechen in Zahltag, der die gebrochene Identität der 2. und 3. Migrantengeneration verkörpert. Jetzt wird Uli, ein junger Deutscher, in den Familienkreis von Kommissar Charitos eingeführt, der der Liebe wegen nach Griechenland zieht. Im neuesten Roman (Zurück auf Start, Anm. d. Red.) wird der deutsch-griechische Zusammenhang noch expliziter. Wie kam es zu dieser Intensivierung?

Petros Markaris: Die zweite und dritte Generation griechischer Migranten in Deutschland, die dort voll integriert sind, spielt bereits eine wichtige Rolle in Zahltag, aber auch in meinem neuesten Roman Zurück auf Start. In Zurück auf Start geht es um ein Geschwisterpaar. Für mich war es anregend, Bruder und Schwester zu porträtieren, die ganz unterschiedlich sind. Die Schwester sagt: »Was verbindet mich noch mit Griechenland?« Der Bruder aber weiß nicht, wohin er gehört. Bis zum Schluss steht er vor beiden Optionen.

Das war für mich eine sehr interessante Studie, wie sehr sich die Nachkommen griechischer Auswanderer oder »Gastarbeiter« als Deutsche fühlen oder nicht. Sie fühlen eine Liebe zu Griechenland, die mehr mit ihrer Herkunft und nicht mit ihrer Lebensrealität zu tun hat. Sie lieben ihr Herkunftsland, aber sie fühlen sich als Deutsche in Deutschland, nicht als Griechen. Es ist naheliegend, dass sie eine Distanz zu Griechenland spüren.

Dan Perjovschi, Onassis Cultural Centre

Eine ganz andere Kategorie ist der Deutsche Uli, eine Figur, die sich in den letzten beiden Romanen entwickelt hat. Damit wollte ich den Griechen zeigen: Hört auf mit euren Vorurteilen. Es gibt Deutsche, die ganz toll sind. Uli ist ein »Goldjunge«, er ist ein ruhiger Typ und liebt seine Freundin Mania über alles. Es geht ihm gut in Griechenland, und er ist dort prima integriert. Gleichzeitig hat er aber auch eine wichtige Eigenschaft: Abstand zu den Dingen. Da geht es ihm ähnlich wie mir. Ich kann so über die griechische Realität sprechen, wie ich es tue, weil ich nicht in Griechenland geboren und aufgewachsen bin. Uns beiden hilft die Distanz, die wir zu den Dingen haben.

Das ist ja auch wichtig für jeden Schriftsteller.

Wenn ein Autor Vorurteile bekräftigt, hat er in meinen Augen seine Aufgabe verfehlt. Ein großes Problem sind Pauschalisierungen, die in der Krise zum Vorschein kamen: Alle Griechen sind faul, alle Deutschen sind Nazis. In Griechenland gibt es mittlerweile mehr Nazis als in Deutschland. Solche Verallgemeinerungen richten Schaden an, und daher muss man sie bekämpfen. Was ich zeigen will, ist: Es gibt noch eine andere Seite der Dinge, die man nur noch nicht sieht.

Die Deutschgriechen in deinen Büchern sind oft gescheiterte Existenzen, gespaltene Persönlichkeiten, die mit ihrer multiplen Identität seelisch nicht ganz fertig werden. Und dadurch werden sie dann auch zur letzten Grenzüberschreitung, zum Töten fähig. Wie könnte man denn diese Zerrissenheit zwischen »deutsch« und »griechisch« überwinden?

Ich bin von Natur aus ein Mensch, der in einem »Schwebezustand«, in einem Niemandsland« lebt. Ich bin das Kind einer gemischten Familie: Mein Vater war Armenier, meine Mutter Griechin, ich bin in Istanbul aufgewachsen, aber auf ein österreichisches Gymnasium gegangen, habe dann in Wien gelebt und lebe jetzt in Griechenland. Eine wilde Mischung, sozusagen.

Immer wieder spüre ich dieses »Niemandsland« und sage: Redet mir nicht von Heimat, weil dieser Begriff sagt mir nichts, absolut nichts! Wenn das ein Grieche hört, schüttelt er sich vor Grausen. Aber ich habe mich an den Zustand gewöhnt, nirgendwohin zu gehören.

Dan Perjovschi, Onassis Cultural Centre

Ein Freund von mir hat es mir so erzählt: »Nach drei, vier Monaten in Deutschland will ich alles hinschmeißen, weil mir die Deutschen auf die Nerven gehen, und zurück nach Griechenland. Doch sobald ich dort bin, sage ich schon nach einem Monat: Ich halte die Griechen nicht aus, nichts wie weg.«

Das ist genau der Zustand des Nicht-Zugehörigseins. Man braucht allerdings eine gewisse Übung, um so leben zu können. Es ist nicht so einfach. Mein Weg war es, mich der europäischen Kultur im Allgemeinen zugehörig zu fühlen, nicht speziell nur der griechischen oder österreichischen oder türkischen. Das hat mir geholfen, die Sache in den Griff zu bekommen.

Um auf das deutschgriechische Geschwisterpaar in Zurück auf Start zurückzukommen: Wie lösen die beiden dieses Dilemma?

In Zurück auf Start löst die Schwester das Problem folgendermaßen, indem sie sagt: »Ich bin Deutsche, punktum.« Ihre Rettung ist, dass sie eine bestimmte Identität wählt. Der Bruder – wie auch die Figur in Zahltag – kann sich nicht entscheiden. Sehr viele Freunde von mir sind Deutschgriechen, die diese Entscheidung auch nicht treffen können. Sie leiden sowohl im einen als auch im anderen Land. Ihre Kinder aber haben es geschafft, sie identifizieren sich mit Deutschland, genauso wie sich die zweite Generation der albanischen Einwanderer mit Griechenland identifiziert. Die erste Generation ist dazu nicht fähig.

Ich werde als Übersetzerin des öfteren gefragt: Was hast du eigentlich mit Griechenland zu tun? Also, in biografischer Hinsicht … Wie kommst du dazu, dich so intensiv mit dem Griechischen zu beschäftigen? Und da sage ich in letzter Zeit immer: Ich bin Wahlgriechin, d. h. ohne biografische Wurzeln zu haben, fühle ich mich der Sprache und den Menschen sehr verbunden. Kann man in diesem Sinn sagen, dass du »Wahldeutscher« bist? Also jemand, der nicht hineingeboren ist in eine Kultur, sondern sich dafür aus freien Stücken entschieden hat…

Ich würde es anders ausdrücken. Ich bin ein Autor mit einem armenischen Vater, einer griechischen Mutter und kulturell deutsch sozialisiert. Die deutsche Kultur hat mich geprägt. Ich kenne mich in der deutschen Literatur besser aus als in der griechischen. Über deutsche Autoren spreche ich mit größerer Leichtigkeit als über griechische.

Dan Perjovschi, Onassis Cultural Centre

Weißt du, wann mir das ganz besonders klar geworden ist? Als ich den Faust übersetzte. Dort wurde mir vollkommen klar, dass ich in der deutschen Kultur heimisch bin und dass ich verstehe, wovon im Faust die Rede ist. Nicht, dass ich alles wüsste, aber ich weiß, wo ich suchen muss. In Bezug auf die antiken Griechen zum Beispiel wüsste ich gar nicht, wo ich nachschlagen soll. Das macht den Unterschied.

Wenn man selbst die Wahl hat, für welche Kultur man sich entscheidet, ist das etwas anderes, als wenn man hineingeboren wird. Freunde wählt man sich selbst, die Familie nicht. In deinem letzten Roman Zurück auf Start wählst du ein Isokrates-Zitat als Motto: Grieche sei man nicht durch Geburt, sondern durch Teilhabe an der griechischen Bildung. Also ein antinationalistisches Statement par excellence…

(lacht) Dieser tolle Spruch von Isokrates ist eine der fortschrittlichsten Positionierungen zu diesem Thema in der ganzen Ideengeschichte. Es ist nicht das Volk, das dich bestimmt, sondern die Bildung. Das erlebe ich bei mir selbst. Die Bildung ist es, die mich geformt hat. Auch in meinem letzten Roman ist die Rolle, die die Bildung spielt, ausschlaggebend für die Aneignung und Assimilierung von Kultur.

In Brechts »Kaukasischem Kreidekreis« gibt es ein ganz ähnliches Zitat, wenn der Erzähler sagt: »Dass da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind.« Dieses Gute ist in dem Fall die Bildung, die die Menschen formt. Brechts Spruch ist genauso für Interpretationen offen wie Isokrates’ wunderbares Zitat.

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Im Epilog zu deiner Krisentrilogie Zurück auf Start spielt eine bestimmte Migrantengruppe eine große Rolle. Du hast schon in früheren Texten, in Balkan Blues zum Beispiel die Schicksale verschiedener Migranten in Griechenland geschildert. Mitte der 2000er-Jahre hast du ein Panorama des Migrantendaseins in Athen entworfen, mit Albanern, Russen, Schwarzafrikanern und Asiaten. Wie haben sich die Dinge seither gewandelt?

Mein neuester Roman fußt auf zwei diametral entgegengesetzten Gruppen. Das eine sind die Neonazis bzw. die Goldene Morgenröte, das andere sind die Migranten. In einem Artikel in der Schweizer WOZ habe ich folgendes gesagt: Für die historischen Vorläufer der Goldenen Morgenröte war die Linke das primäre Hassobjekt und die treibende Kraft, für ihre Enkel hingegen ist es das rassistische Gedankengut. Wird dieser Hass nicht unter Kontrolle gebracht, hat das schlimme Folgen. In Griechenland unterschätzen viele einfache Bürger diese Folgen. Sie begreifen nicht, wohin das führt. Und das ist extrem gefährlich.

Meiner Meinung nach ist die Migrationsproblematik in Hafenstädten wie Patras oder Igoumenitsa besonders kritisch und muss klug gelöst werden. Dazu müssen, über die aktuelle Rassismus-Bekämpfung hinaus, verschiedene Träger zusammenarbeiten, um das Klima in bestimmten Vierteln zu ändern. Wenn Gleichgültigkeit regiert und sich nur wenige engagieren, überlassen wir den Nazis das Feld. Und das hätte enorme Auswirkungen auf ganz Griechenland.

Das ist der Grund, warum ich auf dieses Thema auch in meinem Roman zu sprechen komme. In der »Krisentrilogie« war aufgrund der aktuellen Thematik weniger davon die Rede gewesen, sehr wohl aber in früheren Büchern von mir. Jetzt komme ich wieder darauf zurück, weil ich eins vermitteln möchte: Die Migranten sind keine Heiligen, sie sind Menschen. Und es gibt Zuwanderer, die Griechenland sehr lieben.

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In deinem neuesten Buch geht es auch um die unterschiedliche Psychologie von Griechen und Deutschen, vor allem beim Arbeitsethos. Du sagst, die Deutschen identifizieren sich mit ihrer Arbeit, die Griechen stürzen sich ins Vergnügen, um sie möglichst schnell zu vergessen. Ist das jetzt nicht auch ein bisschen stereotyp und plakativ?

Die Hauptfigur, Andreas Makridis, ein Deutschgrieche, der nach Athen zurückkehrt, um eine Firma zu gründen, schreibt eine Reihe von Briefen. Ausschlaggebend ist dabei, an wen er diese Briefe adressiert. »Mein lieber Franz« richtet sich, wie man bald begreift, an Frank Kafka. Was verbindet ihn mit Franz Kafka? Makridis sieht seine griechischen Arbeitnehmer vor sich, die nur darauf warten, Feierabend zu haben und von ihrer Arbeit erlöst zu sein. Das habe ich selbst so in Griechenland erlebt. Die Arbeit ist für sie ein Zwang, keine Befriedigung.

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Die Mentalität von Angestellten und Bürgern, die einer Logik der Produktivität folgt, ist da ganz anders: »Mir geht es gut, weil ich in meiner Arbeit produktiv bin.« Der Grieche hingegen sagt: »Ich arbeite nicht produktiv, sondern ich arbeite Dinge bloß ab«. Und das ist etwas ganz anderes. Aber es ist schön, nach der Arbeit auszugehen, schön essen zu gehen, sich zu vergnügen – als Befreiung aus der »Strafkolonie« sozusagen.

Das sind die beiden Ansätze, die nicht von vornherein positiv oder negativ besetzt sind. Sich zu amüsieren ist eine Kunst, darüber darf man sich nicht täuschen. Und die beherrschen die Griechen, wie auch andere Südländer, gut. Doch auch, produktiv zu sein, ist eine Kunst. Die Griechen beherrschen die Kunst des Amüsements, aber nicht die Kunst der Produktivität. Wären sie produktiver, würde das Amüsement zu kurz kommen.

Ich habe da so eine These: Eine Mischung aus Griechen und Deutschen wäre der ideale Europäer. Ein bisschen griechisches Laissez-faire und deutsche Disziplin, ein wenig griechische Sinnenlust und deutsche Konsequenz, ein bisschen griechische Improvisation und deutscher Ordnungssinn, etwas griechische Kommunikationsgabe und die deutsche Konzentration aufs Wesentliche.

Die Deutschen könnten ein bisschen mehr wie Griechen sein, und die Griechen ein bisschen mehr wie Deutsche. Da hast du ganz recht. Wir sollten in jede deutsche Familie einen Griechen  oder eine Griechin pflanzen und umgekehrt. In Zurück auf Start spielt der Deutsche Uli diese Rolle. Er und seine griechische Freundin Mania ergänzen sich wunderbar. Er hat begriffen, wie er mit ihr umgehen muss. Was mir aber ganz besonders gefällt ist, dass die Familie des Kommissars Kostas Charitos Uli akzeptiert, und zwar durchgehend alle Familienmitglieder.

Dass die Tochter, Katerina, ihn aufnimmt, ist logisch. Sie ist ein offener junger Mensch, hat studiert und promoviert, sie versteht Uli. Oder auch ihr Mann Fanis, der Arzt ist. Aber Adriani, die Mutter? Aber gerade sie mag Uli besonders gern. Uli ist eine gute Ergänzung, genauso wie der Altkommunist Sissis, der ebenfalls ein Teil der Familie Charitos geworden ist. Beide beeinflussen auf ihre Art die Mentalität der Familie.

Auf der politischen Ebene ist das leider nicht möglich und vielleicht auch nicht sinnvoll, aber auf der persönlichen Ebene der Europäer untereinander gilt genau das: Wie können wir die anderen mit unsere Lebensweise beeinflussen? Denn nur so kann es eine Annäherung geben. Die Annäherung findet nicht auf dem Gebiet der Ökonomie statt, oder nicht nur. Zurzeit wird alles auf der wirtschaftlichen Ebene abgehandelt. Das ist falsch. Es geht auch um Gefühle, um Lebensart, um Mentalitäten. Die deutschen Frauen zu Beispiel, die ich Griechenland leben, sind ganz anderes als die deutschen Frauen in ihrer Heimat.

Du hast ja in deinen Texten Beispiele gegeben, dass die Deutschen, die sich in Griechenland niederlassen, des öfteren griechischer als die Griechen werden. Der Deutsche, der sich dem griechischen Straßenverkehr anpasst und selig lächelnd auf dem Omonia-Platz steht. Was ist es denn, das die Deutschen am modernen Griechenland so anzieht? Ist es das Anarchische, ist es die bestimmte Dosis Verrücktheit, die Lebenslust?

Ich glaube, dass alle Menschen genau das fasziniert, was ihnen fehlt. Den Griechen gefällt das deutsche Organisationstalent. Gleichmaßen angetan ist der disziplinierte, organisierte Deutsche von der griechischen Anarchie. Er sagt sich: »Endlich mal was anderes!« Dieser Mentalitätstransfer zwischen Griechenland und Deutschland beginnt, eine Rolle zu spielen. Nicht alles, aber ein Teil davon verankert sich durch die alltägliche Gewohnheit im jeweils Anderen.

Dan Perjovschi, Onassis Cultural Centre

Die Deutschen, die in Griechenland leben, sind immer noch Deutsche, aber sie haben sich den Griechen angenähert. Genauso geht es den Griechen, die im deutschsprachigen Raum leben. Das ist hilfreich, das ist kreativ. Eine mit einem Griechen verheiratete und in Thessaloniki lebende Deutsche hat mir 2011 folgende Geschichte erzählt. Sie hat auf dem Weg nach Chalkidiki an einer Tankstelle angehalten. Vor ihr stand ein Wagen mit deutschem Nummernschild.

Als sie nach vorne ging, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, bemerkte sie die Aufschrift an der Windschutzscheibe »I don’t vote for Merkel«. Sie wunderte sich und fragte nach, warum die Urlauber das unbedingt auf Englisch verkünden mussten. Die Antwort lautete: Damit uns die Griechen nicht die Scheiben einschlagen. In dem Moment wurde die Frau so wütend, dass sie sagte: Nein, ICH schlage dir gleich die Scheiben ein. Da hat sie gar nicht vernünftig und deutsch reagiert, sondern emotional wie ein Grieche. Verstehst du, was ich meine?

Erstmals erschienen auf http://diablog.eu/portraet/interview-petros-markaris/

Fotos: Michaela Prinzinger, © diablog.eu.

 

Zurück auf Start. Ein Fall für Kostas Charitos von Petros Markaris ist am 25.3.2015 erschienen. Auch als E-Book.

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