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»Der Besuch der alten Dame« am Schauspielhaus Zürich

Bald 60 Jahre nach der Uraufführung feierte Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame am 11. Dezember 2015 im Schauspielhaus Zürich in der Regie von Viktor Bodó Premiere. Bei der öffentlichen Hauptprobe gab Dramaturgin Karolin Trachte eine Einführung in dieses Stück voller grotesker Phantasie, das die makabre Automatik einer moralischen Verfehlung zeigt.

Von Karolin Trachte

Herzlich willkommen zur zweiten Hauptprobe von Der Besuch der alten Dame in der Regie von Viktor Bodó. Heute Abend haben wir eine öffentliche Probe angesetzt, weil der Regisseur sich wünscht, schon früh das Erarbeitete vor Publikum zu testen.

Wie die meisten von Ihnen wissen werden, wurde das Stück Der Besuch der alten Dame hier in Zürich im Pfauen uraufgeführt, das war 1956, vor bald 60 Jahren. Es war für Friedrich Dürrenmatt der Durchbruch zum Welterfolg: Das Stück wurde in 40 Sprachen übersetzt und wird bis heute in der ganzen Welt gespielt. Hier in Zürich wurde es zuletzt 1994 inszeniert. Jetzt steht es nach über 20 Jahren wieder auf dem Spielplan; ausgenommen die Produktion von Rimini Protokoll, die sich 2007 anhand der Uraufführung mit dem Thema Erinnerung beschäftigte.

1956 schreibt Dürrenmatt das Stück natürlich vor dem Hintergrund der Nachkriegszeit, man lässt die Vergangenheit hinter sich, bricht auf zu Neuem und erlebt einen Aufschwung, eine Hochkonjunktur (so sollte das Stück ursprünglich im Untertitel heißen: Komödie der Hochkonjunktur). So auch im Stück. Nur das kleine Städtchen Güllen verarmt immer weiter, die Betriebe schließen, alles geht bergab, als läge ein Fluch darauf – und als sich der Besuch der Multimilliardärin Claire Zachanassian ankündigt, wird das Städtchen auch noch von der vergessen geglaubten Vergangenheit eingeholt.

Die Zachanassian ist als Klara Wäscher in Güllen aufgewachsen, man hofft, dass sie das Städtchen durch eine Stiftung aus der Armut rettet. Als junges Mädchen von Kaufmann Alfred Ill mit dem gemeinsamen Kind sitzengelassen und vor Gericht verraten, wurde sie zur Hure, und bietet dem Städtchen nun – 45 Jahre später – prompt eine Schenkung an: eine Milliarde, wenn jemand Ill tötet.

Interessant ist der Prozess, der jetzt einsetzt, denn darin entrollt sich die geniale Mechanik des Stücks. Der erste Akt endet mit Zachanassians Ausspruch »Ich warte«. Mit diesen Worten nimmt sie auf ihrem Balkon Platz und wartet einen ganzen Akt darauf, dass ihr Angebot seine Wirkung entfaltet. Die Güllner rechnen nicht damit, dass jemand den Mord begeht. Sie rechnen aber sehr wohl damit, dass früher oder später die Milliarde transferiert wird. Sie beginnen, Schulden zu machen. Alle machen mit. (Mit dem Motiv des Mitmachens hat sich Dürrenmatt auch später immer wieder beschäftigt. In den Stoffen sagt er: »Wir machen alle mit. Auch der Schreibende. Wir machen mit, weil wir sind.«) Der Einzige, der diese Automatik sofort durchschaut, ist Alfred Ill. Er nimmt im zweiten Akt eine Art Kassandra-Rolle ein. Er sagt den Güllenern das Unheil wieder und wieder voraus, findet kein Gehör und will schließlich fliehen.

Dürrenmatts Thema ist die Schuld. Genau wie die Themen Recht und Gerechtigkeit durchzieht es sein Werk. Einerseits thematisiert die »Alte Dame« die Schuld des Einzelnen – die des Alfred Ill, als er Klara Wäscher verraten hat. Andererseits geht es um eine kollektive Schuld: dass das Unrecht an Klara unter den Augen der Güllener verübt werden konnte, dass sie das Fehlurteil gebilligt haben. Und schließlich geht um eine weitere kollektive Schuld, den Mord an Ill – der zugleich Sühne sein soll. Ein unlösbarer Knoten. 

Eine wichtige Referenz sind für Dürrenmatt die griechischen Tragödien, er schafft eine Heldin von »antiker Größe«, wie die Figur des Lehrers es an einer Stelle formuliert. Claire Zachanassian ist nicht einfach eine reiche alte Dame, sondern die reichste Frau der Welt, sie leistet sich eine »Weltordnung«. Ihr gehört die »ganze Welt« – was sie eher als Göttin denn als Mensch erscheinen lässt. In Anlehnung an die Tragödie des Ödipus liegt scheinbar ein Fluch auf der Stadt Güllen. In Theben ist es die Pest, hier die Armut. Und erst wenn die kollektive Schuld getilgt ist, wird dieser Fluch aufgehoben. Allerdings gibt es für die Güllener keine Katharsis, keine Reinwaschung von der Schuld – außer Ill lernt in diesem Stück niemand dazu. Die Güllener sind am Ende nicht, wie die Bewohner Thebens, wieder mit den Göttern versöhnt, sondern haben ihre Seelen verkauft. Und bleiben unerlöst. Ill entwickelt sich über die vorläufige Resignation hin zu einem mutigen, todesentschlossenen Helden: Er beschließt, vor dem Unausweichlichen nicht mehr wegzurennen. Zwar stirbt er in seinen eigenen Augen einen Sühnetod – »Für mich ist es die Gerechtigkeit. Was es für euch ist, weiß ich nicht.« –, die Kollektivschuld wird damit aber nicht getilgt. Die Güllner laden stattdessen eine erneute Schuld auf sich.

Dürrenmatts Stück ist universell und speziell zugleich: Zum einen meint es wohl in vielem spezifisch die Schweiz – wie es beispielsweise der Historiker Jakob Tanner im Programmheft zu dieser Produktion brillant analysiert. Zum anderen steckt in dem Stück die ganze Welt: Es handelt von der Korrumpierbarkeit einer Gemeinschaft durch Geld. Und so wurde es in der ganzen Welt übertragen, es ist in ganz Europa, von China bis Amerika von Bedeutung. Es wurde in Ostdeutschland erfolgreich aufgeführt als deutsch-deutsche Geschichte, es ist der Kalte Krieg, es gibt sogar eine schweizerisch-senegalesische Verfilmung – auch hierhin lässt sich die geniale Erzählung mühelos übertragen.

In der Arbeit daran erweist sich das Stück immer wieder als dramaturgisches Meisterwerk. Jeder Bogen ist präzise und detailliert durchdacht. Der Germanist Peter von Matt erinnerte kürzlich daran, bei aller Präzision des Stücks nicht zu vergessen, wie sehr die »Alte Dame« als Figur und als Stück dennoch zu Dürrenmatts »Monstern« gehört. Dürrenmatt hat ja zeitlebens nicht nur geschrieben, sondern auch gemalt. Ursprung seines literarischen Schaffens waren häufig Bilder oder eine Art Vision. Mit der sprachlichen Umsetzung dieser Visionen hatte er immer zu kämpfen, die Sprache genügte nicht. Es war ein Kampf für ihn, dass die Bilder etwas in sich tragen, das nicht zu bewältigen ist – etwas Monströses. Dieses Unfassbare steckt in diesem Stück. Claire Zachanassian ist halb Mensch, halb Prothese, sie ist »nicht umzubringen«, wie sie selbst sagt. Sie ist eine Halbtote, die nicht aus der gleichen Welt kommt wie die Güllener. Das Stück handelt denn auch vom grotesken Eindringen des Kapitals in die kleingeistige, biedere Welt des Städtchens. Die »Alte Dame« ist eine Instanz, ein Stück Anarchie, eine Übermacht, ein kapitalistischer Sprengstoffgürtel. Claire Zachanassian kehrt heim, aber sie ist auch eine Heimsuchung. Sie ist jemand, der sich in Abwesenheit radikalisiert hat. Ein Monster eben.

Dürrenmatt nennt sein Stück eine tragische Komödie. Von beiden, Komödie und Tragödie, werden Sie heute Abend etwas erleben. Viktor Bodó, Jahrgang 1978, aus Budapest, inszeniert bereits seit einigen Jahren an verschiedenen Häusern im deutschsprachigen Raum, unter anderem am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspiel Köln, in Heidelberg und in Graz. Bodó geht an das Stück verhältnismäßig unbelastet heran, er sieht darin vor allem eine großartige, groteske Hauptfigur, die ihn sehr fasziniert. Zum anderen entdeckt er darin eine dunkle, melancholische Grundstimmung, die etwas Alptraumhaftes hat. Genau wie Dürrenmatt es war, ist Viktor Bodó ein großer Fan von Franz Kafkas Schriften. Zu seinem Team gehören neben der Bühnenbildnerin Juli Balázs und der Kostümbildnerin Fruzsina Nagy auch der Musiker Klaus von Heydenaber. Dieser komponierte für den Abend die Musik und hat sie hier in Zürich mit einem Streichquartett und dem Chor Collegium Vocale eingespielt. Des Weiteren gehört zu seinem Team der Sounddesigner Gábor Keresztes, der mit Geräuschen die Grundatmosphäre dieses Abends schafft.

Zum Bühnenbild sollte man Dürrenmatt selbst zitieren: Er schrieb, er hätte dieses Stück nicht geschrieben, wenn er nicht zuerst die Idee zum Bühnenbild gehabt hätte. Dürrenmatt war damals fast täglich im Zug zwischen Neuchâtel und Bern unterwegs, weil seine Frau Lotti in Bern im Krankenhaus lag. Wegen der Streckenführung hielt der Zug auch in kleinen Provinzbahnhöfen. Dort kam ihm der Einfall, die Dinge am Bahnhof anfangen zu lassen. Ist der Bahnhof doch oft das erste, das man bei der Ankunft von einem neuen Ort sieht. Eine ideale Kulisse, um Geschichten zu beginnen. Auch für die Provinz und die Verlorenheit ist es ein tolles Bild: Denn die wichtigen Züge halten längst nicht mehr in Güllen. Weil sich aber die Frage stellte, weshalb eine Milliardärin mit einem ordinären Zug anreisen sollte, kam Dürrenmatt auf die Idee, sie mit mehreren Prothesen auszustatten und es mit Unfällen zu begründen, dass die Zachanassian nicht mehr Auto fährt. So kommt eins zum anderen. Die Bühnenbildnerin hat sich entschieden, Dürrenmatt in diesem Gedanken beim Wort zu nehmen – wie Sie gleich sehen werden.

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