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Textauszüge aus der Anthologie Auszeit

»Was ich fühlte, ist heutzutage derart ungewöhnlich, daß es fast unsinnig klingt. Ich war glücklich.« Sätze wie diese lassen sich in der Anthologie Auszeit entdecken. Drei Auszüge aus verschiedenen Kapiteln geben daraus sind hier für jeden, der das Bedürfnis nach Endlich einmal nichts hat, nachzulesen. 

Auftauchen, um Luft zu holen

George Orwell

(Auszug, Seiten 219 und 220)

»Der alte Wagen fuhr wie eine Berg- und Talbahn die kleinen Hügel hinauf und hinunter. Mein Gott, was für ein Tag! Einer von den Tagen, die es vor allem im März gibt, wenn der Winter plötzlich besiegt ist. Noch vor einigen Tagen hatten wir dieses schreckliche Wetter gehabt, das man hier »klar« nennt – wenn der Himmel ein kaltes hartes Blau trägt und der Wind wie eine Rasierklinge schneidet. Auf einmal wurde es windstill, und die Sonne kam heraus. Nun, das kennt ja jeder. Blaßgoldne Sonne, kein Blatt rührt sich, in der Ferne ein leichter Nebel, und auf den Abhängen hier und da ein paar Schafe wie Kreidetupfen. Und unten in den Tälern brennen Feuer, der Rauch steigt langsam auf und verliert sich im Nebel. Ich hatte die Straße ganz für mich allein. Es war so warm, daß man beinahe die Kleider hätte ausziehen können. Ich kam an eine Stelle, wo das Gras am Straßenrand von Primeln übersät war. Vielleicht ein Stück Lehmboden. Zwanzig Meter weiter bremste ich und hielt. Das Wetter war so schön, daß ich es genießen mußte! Ich wollte aussteigen, um ein wenig von der Frühlingsluft einzuatmen und vielleicht ein paar Primeln zu pflücken, wenn gerade niemand kam. Halb dachte ich sogar daran, einen ganzen Strauß zu binden und ihn Hilda nach Hause zu bringen.

[...]

Am Wegrand befand sich ein fünffach gesichertes Gatter. Ich kletterte hinüber und lehnte mich dagegen. Keine Menschenseele weit und breit. Ich schob den Hut ein wenig zurück, um das linde Streicheln der Luft an meiner Stirn zu spüren. Das Gras am Graben war voll von Primeln. Innerhalb der Einfriedung hatte ein Landstreicher die Reste eines Feuers zurückgelassen. Ein kleines Häufchen weißer Asche, aus dem noch ein Rauchfaden aufstieg. Etwas weiter weg lag ein winziger, mit Entengrütze bedeckter Teich. Auf dem Acker stand Winterweizen. Das Feld stieg steil an, dahinter ein Kalkfelsenabhang und dann ein kleines Buchengehölz. Die jungen Blätter an den Bäumen waren
noch hauchzart. Vollkommene Stille überall. Nicht einmal so viel Wind, um die Asche an der Feuerstelle wegzublasen. Irgendwo sang eine Lerche, sonst kein Laut, nicht einmal ein Flugzeug.
Ich stand so eine Weile über das Gatter gebeugt – allein, ganz allein. Ich sah das Feld an, und das Feld sah mich an. Ich fühlte mich – ach, wie soll man das beschreiben!
Was ich fühlte, ist heutzutage derart ungewöhnlich, daß es fast unsinnig klingt. Ich war glücklich. Ich fühlte, daß ich gern in alle Ewigkeit leben würde. Meinetwegen kann man darauf antworten, das habe nur an diesem ersten Frühlingstag gelegen. Auswirkung der Jahreszeit auf die Sexualdrüsen oder so etwas. Seltsamerweise waren es nicht so sehr die Primeln oder die jungen Knospen in der Hecke, sondern die verglimmende Asche am Gatter, was mir das Leben lebenswert erscheinen ließ. Einfach der Anblick eines Holzfeuers an einem windstillen Tag. Die Scheiter, die alle zu weißer Asche verbrannt sind und doch ihre Form bewahren. Und aus der Asche schimmert ein lebhaftes Rot hindurch. Eigenartig, wie in rotglühender Asche so viel Leben steckt, daß es belebender auf einen wirkt als sonst etwas. Darin liegt so was wie – wie Intensität, Vibration – ich finde das richtige Wort nicht. Aber man spürt, daß man lebt. Die Asche ist der Fleck im Bild, der einen auf alles andere aufmerksam macht.«

Bild von athree23 auf Pixabay

Sonne

D. H. Lawrence

(Auszug Seiten 119 und 120)

»Sie lag mit geschlossenen Augen da, und durch ihre Lider drang es wie rötliche Flammen. Es war zu viel! Sie streckte die Hand aus und legte sich Blätter über die Augen. Dann lag sie wieder in der Sonne, genau wie die langen grünen Kürbisse, die zu Gold heranreifen müssen.
Sie konnte es spüren, wie die Sonne bis in ihre Knochen eindrang, ja sogar noch tiefer, bis in ihre Gefühle und Gedanken. Die dunklen, verkrampften Gefühle entspannten sich allmählich, das kalte, dunkle Gerinnsel ihrer Gedanken löste sich auf. Bald war sie ganz und gar durchwärmt. Sie drehte sich um und setzte auch ihre Schultern, ihre Hüften, die Rückseite ihrer Schenkel und sogar ihre Fersen der Sonne aus. Und halb betäubt lag sie da, weil ihr etwas so Seltsames widerfuhr. Ihr müdes, fröstelndes Herz schmolz und löste sich, schmelzend, in nichts auf. Nur ihr Schoß blieb verkrampft und widersetzlich – ewigen Widerstand leistend. Sogar der Sonne leistete er Widerstand.
Als sie sich wieder angekleidet hatte, legte sie sich noch einmal hin und blickte in die Zypresse hinauf, deren Wipfel, ein Gespinst, in der Brise hierhin und dorthin wehte. Und die ganze Zeit war sie sich des großen Sonnenballs bewusst, der über den Himmel schweifte, und ihres eigenen Widerstrebens. Betäubt ging sie nach Hause, halb geblendet, sonnenblind und sonnenbetäubt. Aber diese Blindheit empfand sie als Fülle – und die undeutliche, warme, drückende Sinnesverwirrung als einen kostbaren Schatz.«

Bild von wyraziznak auf Pixabay

Die fünfte Jahreszeit

Kurt Tucholsky

(Auszug Seiten 178 bis 180)

»»Kurz und knapp, Herr Hauser! Hier sind unsere vier Jahreszeiten. Bitte: Welche – ?«
Keine. Die fünfte.
»Es gibt keine fünfte.«
Es gibt eine fünfte. – Hör zu:
Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es – wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat – : dann ist die fünfte Jahreszeit.
Nun ruht es. Die Natur hält den Atem an; an andern Tagen atmet sie unmerklich aus leise wogender Brust. Nun ist alles vorüber: geboren ist, gereift ist, gewachsen ist, gelaicht ist, geerntet ist – nun ist es vorüber. Nun sind da noch die Blätter und die Gräser und die Sträucher, aber im Augenblick dient das zu gar nichts; wenn überhaupt in der Natur ein Zweck verborgen ist: im Augenblick steht das Räderwerk still. Es ruht.
Mücken spielen im schwarz-goldenen Licht, im Licht sind wirklich schwarze Töne, tiefes Altgold liegt unter den Buchen, Pflaumenblau auf den Höhen … kein Blatt bewegt sich, es ist ganz still. Blank sind die Farben, der See liegt wie gemalt, es ist ganz still. Boot, das flußab gleitet, Aufgespartes wird dahingegeben – es ruht.

[...]

Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören. Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden – es ist nicht der Johannistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes. Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganze kurze Spanne Zeit im Jahre.
Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.«

Bild von StarFlames auf Pixabay
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