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»Die Alteingesessenen, die Neuen, wie arrangieren sie sich?« Christoph Poschenrieders neuer Roman

Ein Dorf fernab der Welt, wo nicht nur Straße und Tal enden, sondern auch Handys nicht funktionieren. Ausgerechnet hier soll ein knappes Dutzend Fremde aus dem Nahen Osten untergebracht werden. Das Dorf gerät in Aufruhr. In seinem neuen Roman Kind ohne Namen setzt sich der Münchner Christoph Poschenrieder mit dem Ankommen und Zusammenleben auseinander – und etwas märchenhaft wird es auch.

Worum geht es in Ihrem neuen Roman Kind ohne Namen im Kern?

Christoph Poschenrieder: Es geht um gute Absichten, die Verstrickung in unklare Gefühle, um Verführung, um das Fremdsein und um das Manipulieren von Menschen. Und auch um etwas Magie; aber das liegt im Auge des Betrachters bzw. des Lesers.

Was hat Sie dazu inspiriert?

Hierzu biete ich folgende Geschichte an: Ich bin im Stipendium in der Villa Concordia in Bamberg. Mauersegler erscheint bald. Ich will einen neuen Roman schreiben. Mehrere Stoffideen konkurrieren. In der kleinen Handbibliothek, die ich mitgenommen habe, befindet sich ein altes Reclam-Heft: Die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf. Auf dem Titel steht, in blauem Kugelschreiber: Christoph Poschenrieder 9E.

Ferne, halbvergessene Schullektüre. Eine grässliche Geschichte. Bauern, Spinnen, Teufelspakt, Frömmigkeit. Ich blättere und lese:

»Allemal, wenn ich dieses Holz betrachte«, begann der ehrwürdige Alte, »so muss ich mich verwundern, wie das wohl zuging, daß aus dem fernen Morgenlande (...) Menschen bis hierher kamen (...), und muß denken, was die, welche bis hierher verschlagen oder gedrängt wurden, alles ausgestanden haben werden und wer sie wohl mögen gewesen sein.«

Das war im Spätsommer/Herbst 2015; wir wissen alle, was da an den Grenzen zu Europa los war. Mir hat dieses Zitat zu denken gegeben: Die Alteingesessenen, die Neuen, wie arrangieren sie sich? Und was heißt schon »alteingesessen«: die Menschen sind schon immer unterwegs (aber nicht immer freiwillig). Dann habe ich ein Dorf in der Nähe von Bamberg gesucht, das der Spielort in meiner Vorstellung sein konnte, und – glücklicher Zufall – dort gibt es eine Höhle, um die herum sich in der Steinzeit Dramen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen abgespielt haben. Sagt man.

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Wer ist das »Kind ohne Namen«, das dem Roman den Titel gibt, und was hat es damit auf sich?

Ich mag diesen Titel sehr, meine Lektorin hat ihn gefunden. Ohne zu viel zu verraten: Xenia, die Hauptfigur im Roman, ist schwanger. Dieses Kind wird, noch bevor es geboren ist, zu einem Faustpfand in einem undurchsichtigen Deal zwischen Xenias Mutter und dem Mann, der im Roman der »Burgherr« genannt wird. Und bevor diese Verwicklungen von Xenia endgültig – und mit doch eher ungewöhnlichen Mitteln – geklärt sind, kann das Kind keinen Namen bekommen ...

Sie schreiben hier zum ersten Mal aus der Perspektive einer Frau. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Nicht viel anders als bei meinen anderen Büchern. Nachdem ich nie über mich selbst schreibe, muss ich meine Vorstellungskraft benützen. Das macht die Sache für mich interessant, diese anderen Blickwinkel auf die Welt: Da hatte ich einen pessimistischen Philosophen des 19. Jahrhunderts (Die Welt ist im Kopf), einen jüdischen Offizier im Ersten Weltkrieg (Der Spiegelkasten), einen schwulen Kunsthistoriker etwa um dieselbe Zeit (Das Sandkorn), und zuletzt, im Mauersegler, fünf alte Männer. Der Schritt über die »Geschlechtergrenze« schien mir zuerst gewagt, aber dann stellte es sich nicht als schwieriger als sonst heraus. Vielleicht liegt das daran, dass ich mit zwei Schwestern aufgewachsen bin. Jedenfalls wurde dieser Roman von Testleserinnen geprüft und für »authentisch« befunden. Vielleicht haben Zuhörer/innen bei meinen Lesungen damit mehr Probleme, wenn sie das weibliche Ich einerseits hören und den männlichen Vorleser andererseits sehen?

Foto: © Daniela Agostini / Diogenes Verlag

Ein »Burgherr« bestimmt die Geschicke des Dorfs. Was können Sie zu dieser schillernden Figur sagen?

Es gab in Deutschland einen Mann, der sich in der Nähe von Nürnberg ein Schloss kaufte und eine paramilitärische Organisation aufbaute, die er »Wehrsportgruppe Hoffmann« nannte. Karl-Heinz Hoffmann war der Anführer, seine Leute liefen in alten Uniformen durch die Wälder, spielten Krieg und horteten heimlich Waffen und Munition. Man könnte drüber lachen, wenn sie nicht alle wild entschlossene Neonazis gewesen wären. 1980 wurde die »Wehrsportgruppe« als verfassungsfeindliche Organisation verboten, und Hoffmann bald darauf zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Mein »Burgherr« ist nicht nur der Anführer seiner eigenen Tarnfleck-Truppe, sondern auch ein Verführer. Er spielt mit den Leuten, die, wie überall, weder besonders gut noch besonders böse sind. Er eröffnet ihnen Möglichkeiten – aber bei ihm gibt es nichts umsonst.

 

Das Interview mit Christoph Poschenrieder führte Silvia Zanovello. © Diogenes Verlag, Juli 2017.

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Christoph Poschenrieder, geboren 1964 bei Boston, studierte an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München. Danach besuchte er die Journalistenschule an der Columbia University, New York. Seit 1993 arbeitet er als freier Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Heute konzentriert er sich auf das literarische Schreiben. Sein Debüt Die Welt ist im Kopf mit dem jungen Schopenhauer als Hauptfigur erhielt hymnische Besprechungen und war auch international erfolgreich. Mit Das Sandkorn war er 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Christoph Poschenrieder lebt in München.

 

Kind ohne Namen erschien am 27.9.2017. Auch als ebook.

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