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„Alles muss ganz anders werden“
Ein neuer Band aus der großen Fauser-Edition

Einmal mehr kann man bei Jörg Fauser lesend lernen, was es heißt, tief zu fallen, aber niemals unterzugehen und neben Witz und Melancholie auch die Lust auf das Leben und ein Bier zu bewahren.

Lesen Sie einen Auszug aus «Alles muss ganz anders werden», der erste Band mit seinen frühen Kurzgeschichten (1975 – 1979).

Foto: Fauser Archiv

Carl sog durch den Strohhalm einen Mundvoll Spezi aus der Flasche, der er vorher reichlich Wodka beigege­ben hatte. Es schmeckte entfernt nach Terpentin-Arrosé-Rum. Über Harrys biografisch gewürzter Predigt kamen der ondulierten Dame gegenüber Tränen in die Augen. Sie klappte eine goldene Puderdose auf und stäubte etwas Rosa auf ihre Tränenbeutel. Carl roch das Puder, erinnerte sich an Eve, die immer ihre Brüste gepudert hatte, wenn sie nach dem Bad ins Bett gestiegen war, und wurde sofort von angenehmen erotischen Halluzinationen verschleiert. Weit weg hörte er Harry mit pastoralem Timbre über Kellerkinder und Kartoffelschnaps referieren, schon spürte er Eves blonde Schenkel, hörte die zerkratzte Schallplatte, die sie damals immer gespielt hatten, Edith Piafs Non, je ne regrette rien!, atmete wieder die unwiederholbaren Düfte jenes Frühlings in den Hinterhöfen von Schmargendorf, da platzte eine plötzliche Stille in seinen fast schon feuchten Traum. Er riss die Augen auf und sah Harry, den zuckenden Schädel in beide Hände gepresst, indes viele sich räusperten und zum Spezi griffen. Heiland, dachte Carl, heute zieht er wieder sämtliche Register.

Nachdem sich am Schluss alle an den Händen gefasst und gelobt hatten, auch diese Nacht in Nüchternheit zu verbringen, löste sich die Versammlung auf. Harry wischte sich den Schweiß von der rot glänzenden Stirn und glättete seine graublonden Strähnen.

»Wie war ich heute?«

»Spitze wie immer.«

»Du glaubst gar nicht, wie mich das erfrischt.«

»Wie ein türkisches Bad?«

»Katharsis, eher. Ehrlich, ohne diese Mittwochabende wäre ich kein ganzer Mensch.«

»Reinigung der Leber durch faustdicke Lügen.«

»Eine Lüge, die Gutes tut, ist selber gut. Ohne Märchen kämen sie doch alle um. Du weißt schließlich, Trinker neigen von Natur zum wollüstigen Untergang, zum sanften, berauschten Fall ins Bodenlose. Der Durst nach Schnaps ist der Durst nach Untergang. Ich lösche sozusagen durch Märchen den Durst der Trinker, die gelobt haben, nüchtern zu sein. Wer mich gehört hat, dem bangt nicht mehr vor dieser Nacht. Das Sandmännchen war da, und siehe, selbst über dem Nüchternen leuchtet der Stern des Untergangs. Komm, wir nehmen einen zur Brust.«

Die Musikbox spielte kroatische Lieder. Es dampf‌ten scharf gewürzte Bohnensuppen mit Speck, große Bissen paniertes Schnitzel wurden mit hellem und dunklem Bier in gut gepolsterte Mägen gespült, es wurde geschmäht und gegrantelt, und im Hintergrund rollten die Billardkugeln über den grünen Filz und polterten in die Taschen des Pool-Tischs. Mit scharfen Augen, die zugleich gemütlich und gefährlich waren, wachte die Wirtin, eine verblühte Schönheit aus Istrien, über die Wolnzacher Hopfenperle.

Carl und Harry tranken Pelinkovatsch zum Weißbier.

»Hast du irgendwas in Aussicht, Carl?«

»Nein, nichts.«

»Ich auch nicht. Aber es macht nichts, Überleben ist auch nicht alles. Hast du was von Eve gehört?«

»Ja. Letzte Woche kam eine Postkarte. Aus New Mexico, glaub ich. Sie gräbt nach Wasser, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Teufel auch, eine harte Sache, mitten in der Wüste. Wer hätte das von Eve gedacht!«

»Man soll die Krankheit nicht zum Mythos erheben, hat sie noch geschrieben.«

»Tatsächlich? Sieh mal an. Das werde ich am nächsten Mittwoch verwenden. Die Ohren werden ihnen überlaufen, meinen nüchternen Brüdern. Und erst den besoffenen!«

»Ich glaube nicht, dass Eve an deine Mittwochabende gedacht hat, als sie das schrieb.«

»Sondern woran, bitte? Frau Wirtin, zwei Pelinkovatsch! Etwa an deinen Tripper vom Vormonat? Oder an Joseph Roth, wohin soll ich nun, ein Trotta? Ja, wohin sollen wir denn, wir Trottel? Ich will dir was sagen, wer so etwas schreibt, denkt an gar nichts, das ist pure Poesie und gehört ins Album aller anonymen Trinker und in Harrys Mittwochabend-Bergpredigt!«

»Davon kommt sie auch nicht zurück.«

»Natürlich kommt sie zurück, oder glaubst du, sie gräbt so lange, bis das Meer in die Wüste fließt? Die Frage ist, ob sie zu dir zurückkommt, und da kannst du alle Hoffnung fahren lassen. Wer die Krankheit nicht zum Mythos erhebt, sondern zum Poesiealbum, geht vielleicht am Wasser zugrunde, aber nicht an der Liebe.«

 

Auszug aus der Geschichte „Alles muss ganz anders werden“, aus dem gleichnamigen Band mit einem Nachwort von Peter Henning. Diogenes Verlag, 2020

Mehr über Fauser und weitere Bücher auf der Microsite #fauserlesenjetzt.

 

Foto: Fauser Archiv

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Alles muss ganz anders werden

Erzählungen 1975–79
Mit einem Nachwort von Peter Henning

Der erste Band mit Kurzgeschichten, mit der fast schon zum Klassiker avancierten Geschichte ›Alles wird gut‹, in der Johnny Tristano sich den
Ratschlag gibt: »Wenn du dich stützen musst, stütze dich an Mauern, nicht an Menschen!« Einmal mehr kann man bei Fauser lesend lernen, was es heißt, tief zu fallen, aber niemals unterzugehen und neben Witz und Melancholie auch die Lust auf das Leben und ein Bier zu bewahren.


Hardcover Leinen
288 Seiten
erschienen am 27. Mai 2020

978-3-257-07092-7
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70
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