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90 Jahre Tomi Ungerer

Eine Hommage an Ungerers Kinderbücher

Am 28.11.2021 wäre Tomi Ungerer 90 Jahre alt geworden. Er war Zeichner, Maler, Illustrator, Bildhauer und Autor von Kinder- und Erwachsenenbüchern. Er war ein Getriebener, ein unfassbar produktiver Künstler, der vor Ideen so sehr sprudelte, dass es ihn manchmal sogar bedrängte: »Ich habe zu viele Ideen. Es ist fast eine Panik von Ideen…«

Viele kennen und lieben Tomi Ungerer aber besonders als Kinderbuchautor und -illustrator. Margaux de Weck, seine langjährige Lektorin, erzählt im Interview von einigen Lieblingsbüchern und Hintergründen.

Haben Sie unter den Kinderbüchern von Tomi Ungerer ein Lieblingsbuch?

Margaux de Weck: Die drei RäuberZeraldas RieseDer Mondmann, Das Biest des Monsieur Racineich bin mit den Kinderbüchern von Tomi Ungerer aufgewachsen und habe sie alle geliebt. Mein absolutes Lieblingsbuch als Kind aber war Crictor

Crictor, die gute Schlange ist eines seiner ganz frühen Kinderbücher, 1958 im Original erschienen. In einer kleinen Stadt in Frankreich lebt eine alte Dame, die von ihrem Sohn, einem Reptilienforscher, eine Schlange geschenkt bekommt und diese dann aufzieht. Crictor, vor dem zunächst alle Angst haben, wird für die alte Dame zum Freund und am Ende sogar zum Helden, als er einen Einbrecher überwältigt und festhält, bis die Polizei kommt.

Eine Schlange als Held eines Kinderbuchs, das sieht man nicht allzu oft.

Margaux de Weck: Das ist typisch für Tomi Ungerer. Statt niedlichen Hasen, putzigen Mäuschen oder Kätzchen wählte er seine Hauptfiguren ganz bewusst aus dem Repertoire der Anti-Helden aus. Crictor ist der erste einer ganzen Reihe von als hässlich oder eklig geltenden Tieren, die Tomi zu den Helden seiner Kinderbücher machte: Es folgten etwa der Tintenfisch Emil, der Geier Orlando oder Rufus, die Fledermaus. Ungerer ging es um Außenseiter, um Minderheiten, um Menschen oder Tiere, gegen die es Vorurteile gibt – und er zeigt in den Geschichten, dass in ihnen noch etwas ganz anderes und unerwartetes steckt. 

Crictor
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Crictor

die gute Schlange

Crictor, die gute Schlange ist eines der allerfrühesten Kinderbücher von Tomi Ungerer. Es erschien 1958 im Original.

Warum hat ausgerechnet Crictor Ihr Herz erobert?

Margaux de Weck: Ganz genau kann ich es nicht erklären, vermutlich lag es an verspielten Details wie dem langen Bett für die Schlange oder dem überlangen Strickpullover, den Madame Bodot, die alte Dame, für Crictor strickt, an der charmanten Selbstverständlichkeit, mit der so absurde Dinge gezeigt werden. Wenn ich mir das Buch heute wieder ansehe, finde ich den sehr französischen, an die Belle-Epoque erinnernden Strich besonders zauberhaft – Tomi schuf dieses Bilderbuch in seiner Zeit in Amerika, es war eine Heimweharbeit. Aber Liebe muss sich bekanntlich nicht rechtfertigen.  

Aus: Tomi Ungerer CRICTOR, Die gute Schlange, Deutsch von Hans Ulrik, © 1968 Diogenes Verlag, Zürich

Margaux de Weck: Die drei Räuber fand ich auch großartig, das ist ja eines seiner bekanntesten Bücher, und die Geschichte ist ja ein bisschen zum Fürchten. In vielen von Ungerers Kinderbüchern geht es, sei es in der Geschichte oder in einem Bilddetail, unheimlich zu und her. Ich weiß noch aus eigener Erinnerung, dass einzelne Bilder die kindliche Phantasie lange beschäftigen können, in einer manchmal irritierenden Angstlust.

Mögen Kinder das denn?

Margaux de Weck: Ja, davon bin ich überzeugt. Für Tomi war das Thema Angst enorm wichtig, er war überzeugt, dass Kinder Angst kennenlernen müssen, und zwar, um sie überwinden zu lernen.  Oder anders ausgedrückt: »Wer keine Angst hat, entwickelt keinen Mut.« Tomi ging es um eine Art Schocktherapie, die Kräfte weckt – gegen das Bedrohliche. »Als Kind fürchtete ich mich vor der Dunkelheit«, hat er einmal erzählt. »Da nahm mich mein älterer Bruder an die Hand und wir gingen eines Nachts, es war Vollmond, auf den Friedhof. Ich hatte mir ein weißes Betttuch übergeworfen, um den anderen Leuten Angst einzujagen – das war ein hervorragendes Rezept gegen die Angst. «Diese Anekdote ist bezeichnend für Tomi Ungerers Ansatz, nicht nur in Kinderbüchern, sondern im Leben überhaupt: das Negative nehmen, um es in etwas Positives zu verwandeln. Das ist der Kern seiner unkonventionellen Lebensphilosophie, sein Motto lautete: »Don’t hope, cope!«

Wichtig dabei: Die kleinen Heldinnen und Helden in Ungerers Kinderbüchern haben selbst nie Angst. Sie sind völlig furchtlos, wie die kleine Tiffany, die am Ende die drei Räuber zum Guten bekehrt. Oder das Mädchen Zeralda in Zeraldas Riese, die den Menschenfresser-Riesen mit ihren Kochkünsten davon abbringt, Kinder zu fressen. Damit machen Tomis Figuren den Kindern Mut.

Aus: Tomi Ungerer Drei Räuber, Aus dem Amerikanischen von Tilde Michels, © 1967 Diogenes Verlag, Zürich

Tomi Ungerer hat Kindern auch sonst einiges an Komplexität zugemutet.

Margaux de Weck: Ja, zum Beispiel auch sprachlich. In den Drei Räubern findet sich das schöne Wort «Donnerbüchse» für ein Gewehr. Tomi liebte es, seltene und seltsame Wörter in seinen Büchern unterzubringen: 

»Es ist auch ein Geschenk, Kindern ein großes Vokabular beizubringen«, hat er einmal gesagt. »Man spricht nicht umsonst von einem Wortschatz. Deshalb sollte man nie zu einer Buche bloß Baum sagen, oder zu einer Amsel bloß Vogel. Wörter wie Wiesenschaumkraut oder Distelfink sind doch schon ein Gedicht.« (Seie 62 aus Besser spät als nie von Tomi Ungerer, Diogenes Verlag AG)

Überhaupt: Man kann schon sagen, dass Tomi Ungerer, zusammen mit anderen Zeichnern seiner Generation wie Maurice Sendak, dem Schöpfer von Wo die wilden Kerle wohnen, das Kinderbuch revolutioniert hat.

Worum ging es damals diesen jungen Wilden?

Margaux de Weck: Sie fanden die meisten Bilderbücher mit ihrer süßlichen, heilen Welt verlogen: Kinder wurden nicht ernst genommen, man sprach sozusagen in visueller Baby-Sprache mit ihnen. Das war eigentlich ein Rückschritt, denn die Märchen etwa spielen ja seit Jahrhunderten mit dunklen Empfindungen, mit Gefahr und Grausamkeit. Die neue Generation von Autoren und Illustratoren in den Sechzigern und Siebziger Jahren fand, dass den Kindern die reale Welt zugemutet werden darf, in all ihrer Unperfektheit. »Man kann Kinder nicht früh genug der Realität aussetzen«, hat Tomi geschrieben. »Ein Kind anlügen, Heuchelei, das ist das Schlimmste, was es gibt. Wenn sie in einer scheinheiligen Welt erzogen werden, sind die Kinder unbewaffnet für die Wirklichkeit. Eltern sind Menschen, sie vögeln, streiten, schreien, saufen, lügen und krepieren.« Und so sind Themen wie Armut, Ausgrenzung, Gewalt, Tod ein in die Kinderliteratur eingezogen.

Zeraldas Riese
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Zeraldas Riese

Das hat die Leute schockiert.

Margaux de Weck: Natürlich, es gab Empörung, Anfeindungen. Man muss sich das einmal vorstellen: Drei Räuber, die ein Kind entführen. Ein Katzenkind, das von seiner Mutter nicht geküsst werden will und böse Dinge zu ihr sagt. Ein Menschenfresser als Held eines Bilderbuchs. Das erregte Skandal bei Eltern und Pädagogen. Und dann erst all die fiesen kleinen Details, die man erst auf den zweiten Blick entdeckt, wie der abgeschnittene blutige Finger, den ein Mann in Das Biest des Monsieur Racine  in einem Bündel mit sich trägt (ein wunderbares Buch von 1971, das übrigens Maurice Sendak gewidmet ist).

Anfang der Siebziger lebte Tomi in den USA und war zu einem Kongress der amerikanischen Bibliothekarinnen und Bibliothekare eingeladen, um über seine Kinderbücher zu sprechen. Eine Dame griff ihn scharf an und sagte, seine Bücher seien schrecklich und nicht kindgerecht, und überhaupt, wie er nur Kinderbücher und gleichzeitig diese furchtbaren erotischen und pornographischen Bilder für Erwachsene machen könne. Ungerer antwortete: »My lady, if people didn’t fuck, they wouldn’t have children – wenn die Leute nicht vögeln würden, dann hätten sie keine Kinder.« Diese Antwort kam nicht gut an. Und hatte zur Folge, dass Ungerers Bücher in Amerika tatsächlich aus den Bibliotheken verbannt wurden. Tomi hatte von diesen Kontroversen irgendwann dermaßen genug, dass er nach Allumette (1974) erst einmal aufhörte, Kinderbücher zu machen.

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Das Biest des Monsieur Racine

Diogenes: Für immer?

Margaux de Weck: Nein, aber für eine lange Zeit – über zwanzig Jahre. Nebenbei gemerkt: Es hat noch länger, nämlich bis ins neue Jahrtausend gedauert, bis Tomis Kinderbücher in den USA wieder lieferbar waren. Aber Ende der Neunziger begann zum Glück eine neue Phase von Tomis Kinderbuchschaffen, mit Geschichten, die eine starke gesellschaftliche Message haben. Das erste Buch nach der langen Pause war 1997 Flix, ein Buch über ein Katzenpaar, das auf einmal einen Hund zur Welt bringt – eine Geschichte über Rassismus und Ausgrenzung, die übrigens derzeit als Trickfilmserie adaptiert und demnächst im Fernsehen zu sehen sein wird. Oder Otto, die Autobiographie eines Teddybären, der Krieg und Nationalsozialismus erlebt, darin hat Tomi viel aus seiner eigenen Lebensgeschichte verarbeitet.

1998 dann hat Tomi Ungerer den Hans-Christian-Andersen-Preis gewonnen, sozusagen der Nobelpreis der Kinderliteratur. Mit ein wenig Verzögerung hat man anerkannt, dass Ungerer mit seinen Büchern seit den fünfziger Jahren zu einem Klassiker des Kinderbuchs geworden war.

Otto
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Autobiographie eines Teddybären

Haben Sie mit Tomi Ungerer als Lektorin auch an Kinderbüchern gearbeitet?

Margaux de Weck: Ich hatte das Glück, in der Zeit unserer Zusammenarbeit das Entstehen einiger Kinderbücher von Nahem mitzuerleben, übrigens zusammen mit meiner Kollegin Kati Hertzsch (Tomis schöpferische Kraft war ein Naturereignis, eine Lektorin reichte da nicht aus!). Zum Beispiel Zloty, die hinreißende Geschichte von der Freundschaft zwischen einem kleinen Riesen und einem großen Zwerg, die exakt gleich groß sind. Oder Der Nebelmann, eine Liebeserklärung an Ungerers Wahlheimat Irland. Was ich auch sehr mag, aber das ist eher für größere Kinder zum Lesen, ist das Philosophie-Buch Warum bin ich nicht du? Und im Jahr vor seinem Tod im Februar 2019 hat Tomi noch zwei Bücher geschaffen: Non Stop, ein einzigartiges Bilderbuch für Erwachsene und Kinder über die Kraft von Freundschaft und Fürsorge in einer apokalyptischen Welt, die der unseren in den Jahren der Pandemie erschreckend ähnlich sieht. Als wir damals im Verlag die Bilder zum ersten Mal gesehen haben, lange davor, waren wir ganz erschüttert und dachten uns: Das ist sowas wie ein Vermächtnis. Doch dann folgte noch ein Buch, wie ein verspielter Nachtrag: Dies und das, in dem Tomi ganz einfach und doch subversiv für ganz kleine Kinder Wortpaare illustriert hat. Tomis Kreativität und sein Werk hören nicht auf, uns zu verblüffen: Gerade haben wir Und jetzt du herausgebracht, ein wunderbares Gute-Nacht-Buch mit einem gereimten Text des amerikanischen Autors William Cole (ganz hervorragend übersetzt von Anna Cramer-Klett). Ein Buch, das 1963 in den USA erschienen ist und das es unglaublicherweise noch nie auf Deutsch gab. Und weitere Wiederentdeckungen werden folgen.  

Und jetzt du
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Und jetzt du

Ein Gute-Nacht-Buch

Website Tomi Ungerer

Wie Tomi Ungerer zum Diogenes Verlag kam, lesen Sie im Beitrag Adieu, Tomi.

Alle aktuellen Veranstaltungen zum Jubiläum von Tomi Ungerer sind hier einzusehen.