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Julian Barnes über Georges Simenon und Maigrets Frankreich

Von Julian Barnes

Georges Simenon kehrt zurück

Georges Simenon (1903 – 1989), Verfasser von zunächst Groschenromanen, dann Krimis und romans durs (genannt Maigrets und Non-Maigrets), schrieb rasend schnell, hatte eine Abneigung gegen Literatur mit einem großen L und gierte geradezu nach Ruhm und Geld. Zu seinen vielen Bewunderern zählten Gide, Cocteau, Céline, Anouilh, Colette, Mauriac, Somerset Maugham, Thornton Wilder, T.S. Eliot, Henry Miller und John Cowper Powys.

Foto: © Peter Brüchmann

Simenon fühlte sich von der öffentlichen Huldigung und privaten Fanpost seiner Zeitgenossen geschmeichelt, aber sie brachten ihn damit auch in Verlegenheit. »Ich wünschte, ich fände Gefallen an dem Werk meiner schreibenden Freunde«, sagte er in Als ich alt war, einem seiner vielen autobiographischen Werke. »Ich versuche, mich dazu zu zwingen, ich versuche, das vorzutäuschen, denn es ist selten wahr … Menschlich sind sie mir sympathisch, aber ihre Arbeit kann ich zu meinem Bedauern nicht bewundern.«

Ein Paradebeispiel war Gide. Er korrespondierte mit Simenon, rührte die Werbetrommel für ihn, rühmte ihn in seinem Journal und arbeitete einige Zeit an einer langen Eloge auf ihn (die nie veröffentlicht und wahrscheinlich vernichtet wurde). Simenon genoss diese Aufmerksamkeit, redete den Älteren als Cher Maître an – aber dessen Bücher fand er völlig unlesbar. Er konnte eine überaus praktische Einstellung zum Prozess und den wirtschaftlichen Gegebenheiten des Schreibens mit einer Selbsttäuschung vereinen, die so wahnhafte Züge trug, dass sie bisweilen schon charmant und anrührend wirkte: »Vielleicht bin ich nicht völlig verrückt«, bekannte er einmal, »aber ich bin ein Psychopath.« So beschloss er 1937, mit 34 Jahren, nachdem er eigener Schätzung zufolge 349 Romane geschrieben hatte, künftig nicht mehr ›nur‹ Maigrets, sondern auch ›richtige‹ Romane zu verfassen. »Bisher sind alle meine Vorhersagen eingetroffen. Also werde ich 1947 den Nobelpreis gewinnen.« Das ist insofern psychopathisch, als er dabei nur die übergroße eigene Person im Blick hat und sich ein falsches Bild von der übrigen (literarischen) Welt wie auch den Qualitäten (ja, der Existenz) anderer macht. Pech nur, dass der Nobelpreis 1947 an André Gide ging. Und auch danach ging er Jahr für Jahr weiterhin an Schriftsteller, die nicht Georges Simenon waren. 1961 war er die Sache dann so leid, dass er seinem Tagebuch anvertraute, er würde den Nobelpreis ablehnen, selbst wenn er ihn bekäme: »Die sollen sich zum Teufel scheren und mich in Ruhe lassen.« Drei Jahre später schimpfte er jedoch weiter auf »diese Kretins, die mir ihren Preis immer noch nicht gegeben haben«.


Was bewundern »literarische« Schriftsteller so an Simenon? Die Kombination von etwas Positivem und etwas Negativem vielleicht: eine Mischung von etwas, was er besser kann als sie, und etwas, was er unterlassen kann, ohne dafür gerügt zu werden. Seine bewundernswerten Qualitäten: wilde Schaffenswut, pointiertes Schreiben, ein überschaubares Personal, atmosphärische Dichte, Detailfülle, Verständnis und Mitgefühl für die petites gens (die »kleinen Leute«), ein undurchschaubarer Plot mit einer meist zufriedenstellenden Auflösung, wobei er die Dinge moralisch in der Schwebe lässt. Und seine beneidenswerten Unsitten: Simenon konnte sich einen äußerst begrenzten und daher äußerst abwechslungsarmen Wortschatz erlauben (nach eigener Schätzung etwa zweitausend Wörter) – er wollte nicht, dass seine Leser über ein Wort nachgrübeln oder gar zum Wörterbuch greifen mussten. Seine Romane sind schmal genug, dass man sie an einem Abend oder während einer Zugreise lesen kann. Er meidet alle rhetorischen Effekte – es gibt selten mehr als einen Vergleich pro Buch und keine Metaphern, geschweige denn etwas, was einem Symbol auch nur entfernt ähnlich sähe. Es gibt Text, aber keinen Subtext, es gibt Handlung, aber keine Nebenhandlung – besser gesagt, was eine mögliche Nebenhandlung zu sein scheint, erweist sich letztendlich meist als Teil der Haupthandlung. Es gibt keine literarischen oder kulturellen Anspielungen und nur minimale Verweise auf die Welt außerhalb des jeweiligen Romans, etwa auf die französische oder gar die internationale Politik. Es gibt auch – was bewundernswert positiv und beneidenswert negativ zugleich ist – keinen allwissenden Erzähler, keinen mahnenden Zeigefinger oder andere moralische Wegweiser. Was dazu beiträgt, dass Simenons Romane eine auffallende Ähnlichkeit mit dem wirklichen Leben haben.


Die romans durs mögen literarisch hochwertiger sein, aber am bekanntesten waren zu Simenons Lebzeiten die fünfundsiebzig Maigret-Romane, und das ist auch so geblieben. Die ersten Maigrets habe ich gelesen, als die BBC ihre unvergesslichen Verfilmungen (52 Folgen zwischen 1960 und 1963) mit Rupert Davies als Maigret und dem hervorragenden Ewen Solon als Lucas ausstrahlte. Damals – nur dreißig Jahre nach Erscheinen des ersten Maigret-Romans – hatte Frankreich trotz des Aufschwungs der Nachkriegszeit noch ausgedehnte Gebiete, in denen das Leben anscheinend so weiterging wie in Simenons Romanen: die Kanäle und anderen Wasserstraßen, die kleinen Bistros und Familienpensionen, die von Mauern umschlossenen, von der Außenwelt abgewandten Marktflecken und Dörfer, wo sich Geschichte und Ranküne ballte, wo die Bourgeoisie ungebrochen waltete und die Gesichter noch alle weiß waren. Damals existierte La France profonde noch, während dieses ursprüngliche und authentische Frankreich sich heute in immer kleiner werdende Nischen zurückgezogen hat und, wie ein französischer Freund von mir treffend bemerkte, zu La France branchée – einem trendigen Frankreich – verkommen ist.


Der Penguin Verlag, der Simenon seit 1952 im Taschenbuch veröffentlicht, hat jetzt das großartige Projekt gestartet, alle Maigret-Romane in neuer Übersetzung herauszubringen, je einen pro Monat, worauf einige der romans durs folgen sollen*. Eine erneute Lektüre der ersten sechs (alle 1931 erstmals erschienen) bestätigt, wie solide Maigrets Welt erdacht und erbaut war, aber auch, wie weit entfernt sie jetzt scheint. Es ist eine Welt, die sich in der Vorstellung des Lesers – selbst wenn Farben beschrieben werden – in Schwarz und Weiß darstellt: im Schwarz-Weiß der Filme mit Jean-Gabin (und der BBC-Serie) wie auch der ersten Fotos von Henri Cartier-Bresson, die zeitlich mit Maigrets ersten Fällen zusammenfallen. Hier werden Pfeifen mit Hühnerfedern geputzt, es werden Visitenkarten abgegeben, Pferdefuhrwerke sind noch eine alltägliche Erscheinung, und zur Ausstattung von Autos gehören Blumenhalter und »mit Intarsien verzierte Seitenfächer«; selbst Regionalzeitungen erscheinen noch am Sonntag, und Fingerabdrücke werden per Berlinograph nach Paris geschickt. Maigret trägt eine Melone und einen Überzieher mit Samtkragen sowie einen »Zelluloidschoner«, in den sein Krawattenknoten gebettet ist – modische Details, die heutzutage allesamt für Überraschung sorgen (Rupert Davies trug definitiv einen weichen Filzhut von der Art eines Fedora oder Homburg). Als in Maigret und der Treidler der ›Providence‹ ein Mann in eine Schleuse fällt und bewusstlos herausgezogen wird, macht sein Retter Wiederbelebungsversuche mithilfe der sogenannten »Zungentraktion«: einem rhythmischen Zerren an der Zunge des triefenden Opfers. Dieser Form künstlicher Beatmung war ich nicht mehr begegnet, seit sie 1897 auf Alphonse Daudet angewendet wurde – über anderthalb Stunden, auch als er längst eindeutig tot war. Die Methode hat zwar keinerlei Wiederbelebungswert, war in der Volksmedizin aber offenbar noch gebräuchlich.


In Maigret-Land wird ausgiebig gegessen und getrunken, häufig klassenspezifisch und zuweilen als Indiz für Kriminalität. Trau keinem Mann, dessen »leichter« Mittagsimbiss aus einem Omelette aux fines herbes, einem Kalbsschnitzel in Crème fraîche und einer Flasche erlesenen Burgunders besteht! Dagegen jederzeit jemandem, der wie Maigret ein ehrliches Frühstück zu sich nimmt, bestehend aus einer dicken Scheibe Brot, etwas Paté und einem Glas Weißwein. Nur ein Bösewicht kann einen 1867er Armagnac, nur ein schurkischer Eton-Zögling ein Glas Champagner mit möglichst wenig Kohlensäure bestellen; Maigret dagegen kippt den selbstgebrannten Pflaumenlikör aus der elsässischen Heimat seiner Frau – und vieles, vieles andere mehr. Nach diesen ersten sechs Büchern zu urteilen, ist der Kommissar ein klarer Fall von funktionierendem Alkoholiker, der ständig dem Bier, Wein, Cognac und Calvados zuspricht; heutzutage würde man ihn zur Beratung schicken, damit er sich da aussprechen und sein Problem angehen kann. Womöglich hat Simenon gar nicht gemerkt, wie viel Maigret trank, weil er damals selbst ein funktionierender Alkoholiker war. Er trank sogar an der Schreibmaschine, und ein wohlmeinender Arzt legte ihm nahe, sich an Arbeitstagen doch auf zwei Flaschen Roten zu beschränken, am besten nicht zu alt und nicht zu jung. Patrick Marnham, einer von Simenons Biographen, weiß (in Der Mann, der nicht Maigret war) zu berichten, die Verfilmungen der BBC seien den Büchern so getreu gefolgt, dass »ein Abstinenzlerverein nachzählte, wie viel Alkohol Maigret in jeder einzelnen Folge trank, und ein anglikanischer Bischof die Produzenten beschwor, diese Menge zu reduzieren.«


Im ersten Maigret-Roman – Maigret und Pietr der Lette – erfahren wir, dass der Kommissar fünfundvierzig Jahre alt ist, Sohn eines Gutsverwalters in der Loire-Gegend und gescheiterter Student der Medizin; dass er von »plebejischer Statur« ist, aber gepflegte Hände hat und mit einer Elsässerin verheiratet ist, die ihm le frichti zubereitet. Die nächsten fünf Maigret-Romane fügen diesem persönlichen Hintergrund nur wenig hinzu: am Ende wissen wir nicht einmal, dass Maigret mit Vornamen Jules heißt (seine Frau nennt ihn »Maigret«). Wenn er 1884 geboren wurde, konnte er dem Kriegsdienst wohl nicht entgegen, erwähnt aber nichts davon und auch La Grande Guerre (den Ersten Weltkrieg) selbst nicht. Hat er Hobbys? Interessiert er sich für Sport? Hat er eine Lieblingszeitung? Politische Ansichten? Hat er sexuelle Vorlieben? Eine vage Antwort auf die letzte Frage wird in Maigrets Nacht an der Kreuzung angedeutet, wo er über mehrere Kapitel hinweg den vehementen Verführungsversuchen einer pseudo-dänischen Femme fatale in einem (natürlich) seidenen Negligé ausgesetzt ist. Sie enthüllt ihm sogar eine »kleine, runde Brust«. Ist er erschüttert oder bewegt? Das Äußerste, was Simenon ihm zugesteht, ist, dass er »sich vielleicht  ein wenig zu sehr von dieser außergewöhnlichen Vertraulichkeit hinreißen« ließ. In einem der folgenden neunundsechzig Maigret-Romane erlaubt Simenon seiner Figur dann, mit einer Prostituierten ins Bett zu steigen – aber nur, um ein Gespräch zu führen.


So bleibt Maigret in sexueller wie auch in jeder anderen Hinsicht »unerschütterlich« – die Eigenschaft, die ihm am häufigsten zugeschrieben wird. Er »steht wie eine Mauer«, ist »ein Bollwerk der Gelassenheit«; in Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien haben seine Augen »einen Ausdruck animalischen Stumpfsinns« und seine Gesichtszüge sind grob. »Von seiner ganzen Erscheinung ging etwas Unerbittliches, Unmenschliches aus, das an einen Dickhäuter denken ließ, der auf ein Ziel zustapft und sich von keiner Macht der Welt mehr davon abbringen lässt.« Oft wirkt er träge und unempfänglich, schweigsam und teilnahmslos. Er verunsichert andere durch seinen starren Blick und murmelt Unverständliches vor sich hin. Zum Teil ist das natürlich eine bewusste Ermittlungstaktik. (Joan Didion hat ihren Erfolg als Interviewerin einmal mit darauf zurückgeführt, dass es ihr oft nicht gelang, die richtige Frage zu finden: Sprachlosigkeit erregte das Mitleid der Interviewten und ließ sie munter drauflos schwatzen.) Es ist aber auch eine bewusste Entscheidung von Simenon. Dass er Maigret nicht vollständig charakterisiert und uns nur wenig Einblick in sein Innenleben gewährt, ist eine Einladung an uns, die Leerstellen selbst auszufüllen, was wir auch gern und einfühlsam tun.


Zwar kann auch Maigret keinen Fall lösen, ohne mehrere Pfeifen zu rauchen, aber die Ermittlungstaktik des Franzosen ist von der eines Sherlock Holmes weit entfernt, der am liebsten im Lehnstuhl sitzt und sich dem logischen Denken hingibt. Maigret nistet sich am Tatort ein, nimmt die Atmosphäre in sich auf, macht sich auf irritierende Weise sichtbar und wartet darauf, dass sich alles zusammenfügt. Er arbeitet mit einer Art unterschwelliger Intuition. In Maigret und Pietr der Lette erläutert er seine »Theorie vom Riss«: dass in jedem Verbrecher ein Mensch steckt, und dass die Polizei auf den Moment warten muss, in dem »hinter dem Gegner der Mensch zum Vorschein kommt«. In Maigret und der gelbe Hund wird Maigret ein eifriger junger Assistent zugeteilt, Leroy, der frisch von der Polizeischule kommt. Er ist ein Technokrat mit einem Faible für Forensik und Fingerabdrücke, seine Aufzeichnungen zu dem Fall halten fest, was geschehen ist oder geschehen sein könnte, und listen die zu lösenden Probleme auf. Im Gegensatz dazu fertigt Maigret kurze Charakterskizzen der Hauptverdächtigen an (der Detektiv als Romancier). Als Leroy sagt: »Daraus folgere ich«, unterbricht ihn Maigret mit: »Ich folgere nie«. Als Maigret bei einem Fall gefragt wird, was er wohl glaubt, erwidert er: »Ich glaube gar nichts«. Als Leroy von Methoden spricht, entgegnet Maigret – im Widerspruch zu dem, was er in Pietr der Lette sagte –: »Meine Methode bestand darin, keine zu haben … [Es ist alles] eine Frage der Atmosphäre. Eine Frage der Gesichter.« Und als Leroy einmal vorpreschen will, hält Maigret ihn mit den Worten zurück: »Sachte! Sachte, mein Junge! Keine übereilten Schlüsse. Und vor allem keine Rückschlüsse …« Das ist eine ausgesprochen romantische Darstellung der Polizeiarbeit: Man steht herum, schnuppert in der Luft wie ein großer Dickhäuter, tut anscheinend nicht viel und wartet darauf, dass sich in einem Menschen der Riss zeigt, der zur Lösung des Falls führt. Es lässt sich auch literarisch wunderbar verkaufen. In Wirklichkeit ist das jedoch nur ein Teil von Maigrets Vorgehensweise: Er arbeitet häufig mit Schlussfolgerungen, bedient sich der Technik und greift auch auf traditionellere Polizeimethoden wie das Zusammenschlagen von Verdächtigen zurück.


Wenn schon Maigret keine verlässlichen Auskünfte über die eigenen Methoden geben kann, dann gilt das ebenso für Simenon, dessen Aussagen über sein Leben und seine Ansichten umfangreich und oftmals widersprüchlich waren. In Als ich alt war behauptet er: »Seit dreißig Jahren versuche ich, verständlich zu machen, dass es keine Verbrecher gibt«. Was wahrscheinlich so etwas wie das Gegenteil bedeutet: dass unter bestimmten Umständen jeder zu einem Verbrechen imstande ist – schließlich war Simenon selbst während des Ersten Weltkriegs in Liège ein kleiner Schwarzhändler gewesen. Maigret glaubt ganz gewiss nicht, dass es keine Verbrecher gibt, auch wenn er den unglücklichen Wesen, die von der Armut zum Verbrechen getrieben oder gegen ihren Willen in eine Gemeinschaft mit berufsmäßigen Gaunern gezwungen wurden, erkennbar Sympathie entgegenbringt. Daher ist er geneigt, es mit den Regeln nicht so genau zu nehmen und die Gerechtigkeit differenziert auszulegen: Am Ende von Maigret und der gelbe Hund lügt er vor Zeugen, um eine Kellnerin zu schützen, die Strychnin in eine Runde Getränke geschüttet hat.


Von diesen ersten sechs Büchern ist Maigret und Pietr der Lette der Roman, in dem es am hektischsten zugeht und der auch am kompliziertesten angelegt ist; immerhin handelt er von eineiigen Zwillingsbrüdern, die sich eine dreifache Identität zugelegt haben. Aber man staunt, wie schnell sich das Modell des klassischen Maigret-Romans herauskristallisiert: Es zeigt sich gleich am Anfang des zweiten Buches, Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet, wo die Umstände eines Verbrechens als »alltäglich, zugleich aber unangenehm und unvergesslich« bezeichnet werden. In mehreren Büchern sorgt sozialer Abstieg für großes Unbehagen, was häufig das Annehmen einer falschen Identität nach sich zieht. Selbst Getränke segeln unter falscher Flagge: neben authentischeren Alkoholika schüttet Maigret auch einen »falschen Absinth« und einen »synthetischen Calvados« in sich hinein. Und in einigen dieser Krimis ist der Zug zum roman dur deutlich zu erkennen. Simenon schafft es, die Welt seltsam und bedrohlich wirken zu lassen, egal, ob sein Schurke eine Waffe hat oder nicht. In Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien gibt es einen Erpresser, der das Geld kassiert und anschließend verbrennt; die psychologischen Folgen dieses Details bleiben bestehen, nachdem das Verbrechen längst aufgeklärt ist. Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet handelt von einem Fall, in dem alles, ohne Ausnahme, Lug und Trug ist; hier gibt es einen Handlungsreisenden, der weiterhin vorgibt, zur Arbeit zu gehen, obwohl er schon vor achtzehn Jahren gekündigt wurde; in Wirklichkeit beschäftigt er sich damit, bei alternden Royalisten Spenden für verschiedene legitimistische Projekte einzutreiben, die er dann in die eigene Tasche steckt. Das ist eine Romanidee mit einem so reichen Potential, dass man meint, sie hätte eine ausführlichere Behandlung verdient, als ein Krimi ihr zukommen lassen kann.


Die Maigret-Romane funktionieren, weil sie alle Wünsche befriedigen, die man üblicherweise an Kriminalliteratur stellt, und außerdem noch eine beständige, verlässliche, leicht zugängliche Welt bieten können. Die frühen Leser mussten nie ein Wort im Wörterbuch nachschlagen, und wir späteren Leser, ob Franzosen oder Ausländer, müssen nie in einem Geschichtsbuch nachschlagen, um zu verstehen, was da vor sich geht. Theodor Fontanes Unwiederbringlich spielt vor dem Hintergrund der Schleswig-Holstein-Frage, die Lord Palmerston zufolge nur drei Männer je verstanden hatten (davon war einer tot, ein anderer verrückt geworden und der dritte er selbst, der es vergessen hatte). Der Penguin-Ausgabe des Romans ist daher eine vierseitige Darstellung der historischen Zusammenhänge vorangestellt. So etwas braucht man bei Simenon nicht. Mag die von ihm geschilderte Welt auch wirtschaftlich und in puncto Sitten und Gepflogenheiten ganz vom Ersten Weltkriegs geprägt sein, so wird dieser Krieg in den ersten sechs Maigret-Romanen doch nur zweimal erwähnt und bezeichnenderweise einmal in einem von Simenons seltenen Vergleichen: Maigret und der Treidler der ›Providence‹ spielt in den Kreidehügeln der Champagne, »auf denen die Weinstöcke zu dieser Jahreszeit wie die Holzkreuze eines Soldatenfriedhofs aussahen«. Was der Lauf der weiteren, äußeren Welt war, ist und wohin er führen könnte, hat hier keine Auswirkungen, so wenig wie etwa auf die Welt von Jeeves and Wooster – Herr und Meister in der berühmten Fernsehserie nach P.G. Wodehouse. Wir treten unsere Reise nach Maigret-Land in der Gewissheit an, dass die Wetterbedingungen extrem sein werden, dass der Kommissar einen scheinbar unlösbaren Fall lösen wird, und dass wir nichts googeln müssen. Dieses Gefühl unbeschwerter Sicherheit wird nun über weitere neunundsechzig Bände anhalten. Nur eine kleine, aber ernsthafte Beanstandung: Penguin hat für diese Serie einige der namhaftesten Übersetzer engagiert. Sie sollten auch mit einer richtigen Kurzbiografie vorgestellt werden, unter der ihres belgischen Brotherrn.


Erscheinen in The Times Literary Supplement am 7.5.2014. Übersetzung aus dem Englischen von Gertraude Krueger.

* Der Diogenes Verlag startete die Herausgabe sämtlicher 75 Maigret-Romane im April 2008 und schloss diese im Oktober 2009 ab. Zum ersten Mal sind seitdem alle 75 Maigret-Romane in revidierter Übersetzung lieferbar. Nach dem großen Erfolg der Maigret-Gesamtausgabe wurde von September 2010 bis Dezember 2013 die Neuedition der Non-Maigret-Romane in 50 Bänden veröffentlicht.
Alle Maigrets und Non-Maigrets sind auch als E-Book erhältlich.

 

Tauchen Sie ein in Kommissar Maigrets Paris und George Simenons Frankreich, gesehen mit den Augen von zeitgenössischen Meisterfotografen wie Brassaï, Henri Cartier-Bresson und Robert Doisneau. Heute erscheint der Bildband Maigrets Frankreich.

In dem prächtig ausgestatteten, stimmungsvollen Buch treten die Fotos mit Zitaten aus den Maigret-Romanen in einen Dialog und lassen diese besondere, vermeintlich versunkene Welt der Zwischenkriegszeit wieder lebendig werden. Eine Hommage als krönender Abschluss unserer Maigret- und der Non-Maigret-Ausgabe.

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Die französische Verfilmung des Non-Maigrets Das blaue Zimmer startet am 28.8.2014 in der Schweiz (Look Now!) und Anfang Februar 2015 in Deutschland (Arsenal). Ein Film von Mathieu Amalric. Mit Léa Drucker, Mathieu Amalric und Stéphanie Cléau. Hier gehts zum Filmtrailer.