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»Ohne Lügen würden alle Familien untergehen. Und auch alle Staaten.« Chris Kraus großes Epos ›Das kalte Blut‹

Mit Chris Kraus ist kein Unbekannter zu Diogenes gestoßen: Als Filmregisseur und Drehbuchautor hat er sich bereits einen Namen gemacht, heute erscheint sein neuer Roman Das kalte Blut.

In bildgewaltiger Sprache entfaltet sich dieses Drama über Verrat und Selbstbetrug, das quer durch das 20. Jahrhundert und wie ein Lauffeuer von Riga über Moskau, Berlin und München bis nach Tel Aviv führt. Kraus hat in seinem epochalem Werk die eigene Familiengeschichte so lange verfremdet und stilisiert, dass sie sich nun als literarisches Unive🐰rsum vor uns ausbreitet.

Foto: Maurice Haas / © Diogenes Verlag

Das kalte Blut ist ein Familienepos, über Generationen hinweg: Wie sind Sie zu dieser Geschichte gekommen?

Chris Kraus: Die Vorgeschichte zu Das kalte Blut ist umfangreich. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich habe mich für die Vergangenheit meines Großvaters interessiert und über ihn auch ein Buch geschrieben, zehn Jahre Recherchearbeit geleistet und bin dabei auf eine Version meiner Familiengeschichte gekommen, die mir vorher fremd war.

Wie viel ist Fiktion, und wie viel basiert auf Realität?

Ich komme selbst aus einer Täterfamilie und wusste das lange nicht. Ich habe mich daher in historische Recherchen gestürzt: Zehn Jahre lang habe ich in Archiven gearbeitet, Zeithistoriker interviewt, Zeitzeugen getroffen und dabei entdeckt, dass auch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ganz anders gelaufen ist, als uns das im Geschichtsunterricht beigebracht wurde. Tatsächlich wurde Deutschland nach dem Krieg ganz stark von Mitläufern und bekennenden Nationalsozialisten aufgebaut, in allen gesellschaftlichen Bereichen, ganz besonders aber in den Geheimdiensten. Das ist der Kern dieser Fiktionalisierung. Ich wollte wissen: Was sind das für Menschen gewesen? Ich wollte die Beweggründe ihres Handelns durchspielen. Der Hintergrund des Romans ist schon sehr nah an den historischen Fakten, die Konstellation der Hauptfiguren hingegen ist völlig erfunden.

Wie genau haben Sie recherchiert, wo Ihre Informationen bezogen?

Ich habe sehr viele Zeitzeugen befragt, die inzwischen alle gestorben sind. Ich habe primäre Quellen untersucht in Archiven in Deutschland, in der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, im Bundesarchiv Koblenz, Berlin, ich war in Riga, in Warschau und in Washington. Dann habe ich natürlich viele Zeitschriften gelesen und vor allem einige Fachhistoriker getroffen.

Riga um 1900

Wo, an welchen Orten, spielt Ihr Roman, und welche Verbindung haben Sie zu diesen Schauplätzen?

Die Hauptfiguren sind alle aus dem deutschbaltischen Milieu, wie ich auch. In dieser Kultur kenne ich mich aus. Ich habe auch zum Teil diese alte Sprache benutzt, mit der ich aufgewachsen bin, diesen merkwürdigen Dialekt, den es heute nicht mehr gibt, eine Mischung aus Ostpreußisch und Jiddisch. Es war schön, wieder einzutauchen in diese untergegangene Zeit. Ich bin dann den Spuren meiner Altvorderen nach Westdeutschland gefolgt. Der Roman spielt an vielen Schauplätzen, weil die Hauptfiguren Spione sind und diese zwangsläufig heute hier und morgen dort sind.

Wie bewahrt man beim Erzählen eine Art Leichtigkeit bei diesen schweren und auch schwermütigen Schicksalsschlägen, Kriegen, Katastrophen?

Es ist schon so, dass der historische Stoff so irrsinnig ist, dass man nur weinen oder lachen kann. Wie soll man sich sonst anders behelfen? Der Stoff selbst gibt eine Distanzierung vor, die gut mit Humor funktioniert. Das Verrückte am Humor ist, dass er auf einer Seite die Distanzierung ermöglicht von den Dingen, die beschrieben werden, und auf der anderen Seite aber eine Nähe zu der Figur schafft, die den Humor benutzt. Letztlich hat aber der Humor in dem Buch natürlich viel mit Verzweiflung zu tun.

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Ist es in heutiger Zeit besonders wichtig, an die Greuel der Vergangenheit zu erinnern?

Das Verrückte ist: Die Greuel bleiben alle immer gleich. Da ist nichts besser geworden bis heute. Die Grundausstattung, die mentale Ausstattung zur Bestialität, hat der Mensch immer. Die kann jederzeit durchschlagen. Das ist vielen unserer Großväter widerfahren in einer Zeit, in der man sich das eigentlich nicht vorstellen konnte, einer hochzivilisierten Zeit. Mir und Ihnen ist das zum Glück bislang nicht widerfahren. Es kann aber jederzeit wieder geschehen. Es muss sozusagen nur eine Konstellation da sein, die die Menschen dazu bringt zu vergessen. Und dafür ist Geschichte wichtig, dass man möglichst nicht vergisst, und dafür ist Politik wichtig, dass diese Situation nicht eintrifft.

 

Das Interview führten Silvia Zanovello und Kerstin Beaujean, Oktober 2016 © by Diogenes Verlag AG Zürich.

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Chris Kraus, geboren 1963 in Göttingen, ist Filmregisseur, Drehbuchautor und Romancier. Seine Filme (darunter Scherbentanz, Poll) wurden vielfach ausgezeichnet, Vier Minuten mit Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung gewann 2007 den Deutschen Filmpreis als bester Spielfilm. Sein neuer Film, die Tragikomödie Die Blumen von gestern, mit Lars Eidinger in der Hauptrolle, kommt im Januar 2017 ins Kino. Das kalte Blut ist Chris Kraus’ zweiter Roman. Der Autor lebt in Berlin.

 

Das kalte Blut ist am 22.3.2017 erschienen. Auch als ebook.

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