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Esmahan Aykol im Interview – ein Gespräch über den druckfrischen Krimi »Istanbul Tango«, die türkische Hauptstadt drei Jahre nach den Gezi-Protesten und ihre größte Inspiration

Wie entstand Ihre Ermittlerin, Kati Hirschel, die als Deutsche einen Krimiladen in Istanbul betreibt? Gab es ein Vorbild für diese Figur?

Kati ist eine Mischung von zwei Freundinnen von mir. Die eine, Tina, hat über zehn Jahre in Istanbul gelebt und unterrichtete Deutsch an der Istanbuler Universität. Die andere, Canan, ist meine beste Freundin. Mit ihr hatte ich den Versuch mit der Bar gemacht, wir gingen pleite, und sie hat am Ende die Buchhandlung Mephisto eröffnet.

In Istanbul Tango, Ihrem neuen Roman, kommen die türkischen Medien nicht sonderlich gut weg – Stichwort Korruption. Entspricht das der Realität?

Leider ja. Die Tatsache, dass weniger als zwei Monate nach Gezi Park über dreißig topverdienende Journalisten arbeitlos geworden sind, ist der Beweis dafür.

Es wird gesagt und geschrieben, dass Tayyip Erdoğan Medienbosse persönlich anruft, wenn er einen Journalisten loswerden will. Ich fühle mich manchmal in der Türkei wie in dystopischer Science-Fiction.

Vor drei Jahren gab es die Proteste rund um den Gezi-Park: Haben sie die politische Landschaft verändert? Würden Sie Istanbul Tango, das im Original 2012 erschien, heute anders schreiben?

Die Proteste rund um den Gezi-Park waren eine Zeitenwende. Man spricht heute von vor Gezi und nach Gezi. Bei den Gezi-Protesten haben viele liberale Intellektuelle erst realisiert, wie die Regierung mit Andersdenkenden umgeht, und sind in die Opposition gegangen.

Vor Gezi dachte ich immer: »Wir sind so wenige …«. Dabei geht es vielen so wie mir. Das zu sehen hat unheimlich gutgetan, so dass ich sagen konnte: Egal, was jetzt geschieht: Ich fühle mich nach so vielen Jahren in Istanbul wieder zu Hause. Wie sich das alles in Zukunft entwickelt, steht allerdings noch in den Sternen.

Ich würde meinen Roman Istanbul Tango heute noch genau gleich schreiben wie vor Gezi. Darin ist Kati auch nicht mehr so begeistert von Istanbul wie früher. Ihr Leben, als Ausländerin, ist natürlich weniger beeinflusst durch politische Ereignisse in der Türkei, aber sogar sie sagt: »Istanbul ist nicht mehr dieselbe Stadt, die ich so sehr liebte.«

In Istanbul Tango weiß man am Anfang nicht, ob es sich um einen Mord oder überhaupt um ein Verbrechen handelt, aber eins ist klar: Jeder hat schmutzige Hände. Das ist auch im realen Leben so. In Medienkreisen ging es in den letzten Jahrzehnten leider nicht besonders korrekt zu und her. Wie sonst hätten »wichtige« Kolumnisten und CEOs von Medienkonzernen so viel Geld bezahlt bekommen?  

Und im Kern des Romans geht es um die Angst, die das autoritäre Regime verbreitet. Es geht um einen Polizeistaat, z.B. um die ständige Angst, dass die Telefone angezapft werden … Und um die Menschentypen, die unter diesem autoritären Regime herangezüchtet werden.

In Ihren Romanen schwingt immer Kritik an den politischen Zuständen in der Türkei mit. Hatten Sie damit in der Türkei schon Probleme? Die Türkei geht ja nicht gerade zimperlich mit regimekritischen Schriftstellern um.

Nein, noch nicht. Aber ich rechne damit beim nächsten Roman.

In der Türkei sterben im Moment dreißig bis vierzig Leute pro Tag. Gerade diese Woche gab es wieder einen Anschlag in Istanbul. Und immer trifft es unschuldige Leute. Wir Schriftsteller und Journalisten müssen über alles schreiben, was in der Türkei passiert. Wir schulden das den Leuten, die täglich ums Leben kommen.

Die Romane, die heute in der Türkei gelesen werden, sind allerdings hauptsächlich sogenannte Sufi-Literatur, kitschige Romane über göttliche Liebe oder über osmanische Sultane.

Ihre Romane entlarven auch immer wieder deutsch-türkische Vorurteile. Welche gibt es heute immer noch, welche sind besonders augenfällig?

Ich glaube, es gibt immer weniger Vorurteile in der deutschen Gesellschaft, egal, wem gegenüber. Vorurteile hat man ja nur so lange, wie man “den anderen” nicht kennt. Im täglichen Leben begegnen wir uns immer öfter, und irgendwann fängt man an, miteinander zu reden. Für die Jüngeren ist alles sogar noch einfacher, weil sie von Anfang an zusammen aufwachsen. Die jüngeren Generationen empfinde ich generell als weltoffener. Ich werde immer optimistischer, was die Zukunft anbelangt.

Sie selbst haben lange in Berlin gelebt, sich aber jetzt für Istanbul entschieden – was gefällt Ihnen so gut an Istanbul?

Die Energie. Früher habe ich in Istanbul gelebt und in Berlin gearbeitet. Jetzt habe ich einen Weg gefunden, auch hier in Istanbul diszipliniert arbeiten zu können.

Istanbul, besonders das Zentrum der Stadt, wo ich schon immer gelebt habe, erkenne ich allerdings kaum wieder. Viele alte Läden und Wohnungen sind verschwunden, es wird viel gebaut. Im Moment dokumentiere ich eine Straße, und jeden Monat sieht sie anders aus. Die Energie von Istanbul kann sehr beflügelnd sein, aber auch zerstörerisch. Beides interessiert mich.

Im Moment sind viele obdachlose kurdische Flüchtlinge aus Syrien auf den Straßen zu sehen, das gehört auch zum Stadtbild. Für meine Romane ist die aktuelle politische Lage sehr wichtig. Ich empfinde meine Romane zu einem Teil als eine Art Dokumentation zu Istanbul. Die Stadt ist auf jeden Fall eine Hauptfigur.

Was halten Sie denn vom Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei?

Es ist eine Schande! Man verhandelt da über Menschenleben, als wären es Waren. Die syrischen Flüchtlinge leben hier in schlimmen Verhältnissen. Die Kinder dürfen nicht zur Schule gehen, sie haben keine Zukunft in der Türkei. Außerdem werden die 3 Milliarden Euro ganz bestimmt nicht für die Syrer ausgegeben.  

Istanbul war in den letzten Jahren eine Trend-Reisedestination. Hat sich das geändert?

Ich schaue gerade von meinem Fenster auf den Galataturm: Da ist kein einziger Tourist zu sehen. Es gibt eindeutig weniger Tourismus, gerade habe ich gehört, die Zahlen seien um 70% runtergegangen. Die Russen kommen nicht mehr wegen der politischen Krise seit dem Flugzeugabschuss, und europäsiche Touristen kommen nicht mehr aus Angst vor Anschlägen. Und diesen Monat kommen auch keine Araber, wegen des Ramadans.

Warum schreiben Sie vorwiegend Krimis? Sie haben auch einen Nicht-Krimi geschrieben, Goodbye Istanbul. Fällt Ihnen das Schreiben von Krimis leichter, reizt es sie mehr?

»Leichter« nicht, aber das Schreiben von Kati-Hirschel-Romanen ist mir vertrauter, Kati Hirschel kenne ich mittlerweile sehr gut,  Nebencharaktere wie Fofo, Pelin und Lale auch … In Goodbye Istanbul stammt die Protagonistin Ece aus einer Arbeiterfamilie und wohnt in einem Vorort, Küçükçekmece. Ihre Herkunft unterscheidet sich also stark von der Katis.

Damit ich anfangen kann zu schreiben, muss ich meine Figuren sehr gut kennen. Charaktere sind für meine Art zu schreiben sehr wichtig, weil ich den Plot nicht in jedem Detail kenne, wenn ich mit einem Roman anfange. Ich weiß, worum es darin geht oder wer umgebracht wird, aber die Geschichte und ihre Nebenstränge entwickeln sich zum größten Teil während des Schreibens. Deshalb muss ich wissen, wie ein Charakter sich in einem bestimmten Situation verhält. 

Bei den Kati-Hirschel-Romanen habe ich nicht so viel Spielraum. Ich-Erzählerin, Istanbul, Genre … fast alles ist vorbestimmt. In dem Format kann man natürlich nicht alle Geschichten erzählen.

Zum Beispiel eignete sich der Völkermord an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts nicht dafür, deshalb schrieb ich Goodbye Istanbul aus einer anderen Perspektive. Es geht mir – ob Krimi oder nicht, mit Kati Hirschel oder ohne – ums Geschichtenerzählen, zu den Themen, die mich am meisten berühren.

Aber eins ist mir mittlerweile klar: Wenn ich eine längere Pause mache, fange ich irgendwann an, Kati Hirschel zu vermissen. 

Taugt der Krimi als Gefäß für Gesellschaftskritik?

Seit der Zeit der Hardboiled-Krimis tut er das. Wenn man über Verbrechen schreibt, hat man auch keine andere Wahl. Der Kriminelle ist das Produkt einer Gesellschaft. Kann man sich in der heutigen deutschen Gesellschaft solche Journalisten vorstellen, wie sie in Istanbul Tango vorkommen? Unmöglich. Aber während des Dritten Reiches gab es viele solche Typen. Denken Sie an Klaus Manns Mephisto: Hendrik Höfgen könnte genauso gut Türke sein …  

>> weiterlesen: Ross Macdonalds Lew Archer – der empathische unter den Hardboiled-Detektiven

Erinnern Sie sich noch an die ersten Krimis, die Sie gelesen haben – oder daran, wie Ihre Krimi-Leidenschaft geweckt wurde?

Natürlich! Meine Mutter war eine leidenschaftliche Krimileserin. Aus der Bibliothek meiner Eltern durfte ich lesen, was ich wollte. Ein Traum!

Wer sind Ihre Lieblings-Krimiautoren?

Gerade lese ich wieder Ripley’s Game von Patricia Highsmith. Als ich 1999 nach Deutschland kam, konnte ich kaum Deutsch, aber ich ging trotzdem sofort in eine Buchhandlung. Fast alle meine damaligen Lieblingsschriftsteller waren bei Diogenes bis auf Minette Walters. Ich entdecke immer wieder neue Lieblingsautoren. Ganz wenige wie Patricia Highsmith und Italo Calvino lese ich immer wieder.

>> weiterlesen: Die zehn besten Bücher von Patricia Highsmith

Wie schreiben Sie und wo? Arbeiten Sie zu festen Stunden?

Ich schreibe in meiner Wohnung in Galata, in der Gasse, wo Kati Hirschel ihre Buchhandlung hat. Ich stehe früh auf, um ca. sechs Uhr, und arbeite bis etwa um 13 Uhr, dann gehe ich schwimmen, und abends gehe ich früh ins Bett. Wenn ich an einem Roman arbeite, bin ich sehr diszipliniert und gehe nicht viel aus. Ich brauche die Ruhe der Morgenstunden. Wenn ich erst gegen neun Uhr aufwache, kann ich nicht mehr arbeiten.

In Istanbul braucht man einen eisernen Willen, um zu Hause bleiben und schreiben zu können. In den Straßen wimmelt es von Menschen. Besonders in der Gegend, wo ich wohne, ist immer viel los.

Machen Sie sich Notizen, wie kommen Sie an Ihre Ideen?

Ich mache haufenweise Notizen, man kann sich gar nicht vorstellen, wie viele. Ich habe drei bis vier Notizhefte. Und wenn ich kein Papier dabeihabe, tippe ich meine Gedanken ins iPhone.

Oft notiere ich mir einen Satz, oder auch ganz einfach Straßennamen. Eine Form von Notizen sind auch Fotos: Ich fotografiere viel, wenn ich in den Straßen von Istanbul unterwegs bin.

Sie haben als Barkeeperin gearbeitet. Ist das nicht die perfekte Art, an Geschichten zu kommen?

An Geschichten zu kommen? Ich glaube die meisten Menschen erleben keine wirklich interessanten Geschichten. Oder sie merken es gar nicht, wenn sie etwas Interresantes erleben. Oder sie können es nicht gut in Worte fassen, so dass man ihnen gerne zuhört.

Aber es stimmt schon: Ich höre gern zu, nicht nur damals als Barkeeperin, sondern auch als Journalistin. Dank der wunderbaren Übersetzung kommt auch in der deutschen Sprache zur Geltung, dass mir die Dialoge in den Romanen sehr wichtig sind. Da reden die Leute, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Und das habe ich vom Zuhören gelernt.  

Kennen Sie die Kayankaya-Krimis von Jakob Arjouni? Arjounis Held ist türkischstämmig, ohne des Türkischen mächtig zu sein, und hat zeit seines Lebens in Frankfurt gewohnt. Würden sich Kati Hirschel und Kemal Kayankaya verstehen? Worüber würden die beiden reden?

Jakob Arjouni gehört auch zu meinen großen Vorbildern. Mein Deutsch hat damals nicht gereicht, um die Bücher im Original zu lesen, aber zum Glück gab’s die türkische Übersetzung. Ich sage “zum Glück”, weil nur sehr wenig aus dem Deutschen übersetzt wird.  

Als großer Krimifan hatte ich die Kayankaya-Romane längst entdeckt und gelesen, bevor ich nach Deutschland kam. Ich liebe auch die anderen Bücher von Jakob Arjouni. Er war ein hervorragender Schriftsteller. Es tut mir so leid, dass er so jung gestorben ist.

Ich glaube nicht, dass Kati und Kemal viel gemeinsam haben. Bruder Kemal habe ich zwar noch nicht gelesen. Ich habe aber über Bruder Kemal gelesen und weiß, dass sich Kayankaya darin stark verändert hat. Vielleicht hat er sich so stark verändert, dass Kati und er jetzt dicke Freunde werden könnten. Das weiß ich nicht. Das ist jedenfalls etwas, das mich an Serien reizt. Der Leser kann verfolgen, wie sich die Charaktere im Laufe der Jahre verändern.

Als Buchhändlerin muss sich Kati Hirschel immer wieder Kommentare über den Internet-Buchhandel und das drohenden Aus des stationären Buchhandels anhören – was sie natürlich ärgert, sie will sich ihren optimistischen Blick auf ihre buchhändlerische Zukunft bewahren. Wie sehen Sie die Zukunft von kleinen, unabhängigen Buchhandlungen? Lesen Sie Bücher auch elektronisch?

Ich benutze nicht viel Technologie. Ich schleppe immer noch Bücher mit mir herum. Praktisch ist das zwar kein bisschen, wenn man zwischen zwei Städten pendelt. Oder zwischen drei Wohnungen, wenn auch noch die Insel dazukommt …

Ich liebe es, in die Buchhandlung zu gehen, mit Verkäufern zu plaudern, Menschen, die immer noch Bücher kaufen, zu beobachten … Bücher sind mein Leben. Ich liebe Bücher auch als Objekt.

Ich liebe es, Bücher anzufassen und Seiten umzublättern. Ich versuche alles zu tun, was in meiner Macht steht, damit die kleine Buchhandlung um die Ecke auch in Zukunft da zu finden ist.

Wir wollen natürlich nicht zu viel über den neuen Fall von Kati Hirschel verraten. Aber vielleicht können Sie uns sagen, wie Sie auf die Idee zu diesem Roman gekommen sind?

Während meines Studiums und danach habe ich als Journalistin gearbeitet. Insgesamt zehn Jahre lang … Meine engsten Freunde sind Journalisten. Daher kenne ich viele Gerüchte, von denen man normalerweise nichts erfährt. Manche Nebenstränge in dem Buch stammen denn auch aus Wirklichkeit. Eine Journalistin, die ich nicht von früher kannte, meinte anlässlich eines Interviews zu meinem Buch: »Schade, dass wir uns nicht früher kannten. Ich hätte dir einiges erzählen können …« Das einzige Problem ist, dass die echten Intrigen meist ziemlich primitiv sind. Da braucht es die Phantasie eines Schriftstellers, um etwas daraus zu machen.

 

Das Interview führte Silvia Zanovello.

 

Istanbul Tango. Ein Fall für Kati Hirschel von Esmahan Aykol, aus dem Türkischen übersetzt von Antje Bauer, ist am 25.5.2016 erschienen. Auch als ebook.

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Esmahan Aykol, geboren 1970 in Edirne in der Türkei, arbeitete während des Jurastudiums als Journalistin für verschiedene türkische Zeitungen und Radiosender. Darauf folgte ein Intermezzo als Barkeeperin. Heute konzentriert sie sich aufs Schreiben. Sie lebt in Berlin und Istanbul.

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